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Däumelinchen

Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 1 ( von 7 )

Es war einmal eine Frau, die sich sehr nach einem kleinen Kinde sehnte, aber sie wusste nicht, woher sie es nehmen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte zu ihr: "Ich möchte herzlich gern ein kleines Kind haben, willst du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?" "Ja, damit wollen wir schon fertig werden!" sagte die Hexe. "Da hast du ein Gerstenkorn, das ist gar nicht von der Art, wie sie auf dem Felde des Landmanns wachsen, oder wie sie die Hühner zu fressen bekommen, lege das in einen Blumentopf, so wirst du etwas zu sehen bekommen!"
"Ich danke dir!" sagte die Frau und gab der Hexe fünf Groschen, ging dann nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs da eine herrliche große Blume; sie sah aus wie eine Tulpe, aber die Blätter schlossen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wäre.
"Das ist eine niedliche Blume!" sagte die Frau und küsste sie auf die roten und gelben Blätter, aber gerade wie sie darauf küsste, öffnete sich die Blume mit einem Knall. Es war eine wirkliche Tulpe, wie man nun sehen konnte, aber mitten in der Blume saß auf dem grünen Samengriffel ein ganz kleines Mädchen, fein und niedlich; sie war nicht über einen Daumen breit lang, deswegen wurde sie Däumelinchen genannt.
Eine niedliche lackierte Wallnussschale bekam sie zur Wiege, blaue Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett. Da schlief sie die Nacht, aber am Tage spielte sie auf dem Tisch, wo die Frau einen Teller hingestellt, um den sie einen ganzen Kranz von Blumen gelegt hatte, deren Stängel im Wasser standen; hier schwamm ein großes Tulpenblatt, und auf diesem konnte Däumelinchen sitzen und von der einen Seite des Tellers nach der andern fahren, sie hatte zwei weiße Pferdehaare zum Rudern. Das sah ganz allerliebst aus. Sie konnte auch singen, und so fein und niedlich, wie man es nie gehört hatte.
Einmal Nachts, als sie in ihrem schönen Bette lag, kam eine Kröte durch das Fenster hereingeschlüpft, wo eine Scheibe entzwei war. Die Kröte war hässlich, groß und nass, sie hüpfte gerade auf den Tisch herunter, wo Däumelinchen lag und unter dem roten Rosenblatt schlief.
"Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!" sagte die Kröte, und da nahm sie die Wallnussschale, worin Däumelinchen schlief, und hüpfte mit ihr durch die zerbrochene Scheibe fort, in den Garten hinunter.
Da floss ein großer breiter Fluss; aber gerade am Ufer war es sumpfig und morastig; hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war hässlich und garstig und glich ganz seiner Mutter. "Koax koax, brekkekeker!" Das war Alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in der Wallnussschale erblickte.
"Sprich nicht so laut, denn sonst erwacht sie!" sagte die alte Kröte. "Sie könnte uns doch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie auf eins der breiten Seerosenblätter in den Fluss hinaussetzen, das ist für sie, die so leicht und kleine ist, gerade wie eine Insel; da kann sie nicht davonlaufen, während wir die Staatsstube unten unter dem Morast, wo ihr wohnen und hausen sollt, in Stand setzen."
Draußen in dem Flusse wuchsen viele Seerosen mit den breiten grünen Blättern, welche aussehen, als schwämmen sie oben auf dem Wasser; das Blatt, welches am weitesten hinauslag, war auch das allergrößte; da schwamm die alte Kröte hinaus und setzte die Wallnussschale mit Däumelinchen darauf.
Das kleine Wesen erwachte früh Morgens, und da sie sah, wo sie war, fing sie recht bitterlich an zu weinen; denn es war Wasser zu allen Seiten des großen grünen Blattes, und sie konnte gar nicht an das Land kommen.

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