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Däumelinchen
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 3 ( von 7 )
Den ganzen Sommer über lebte das arme Däumelinchen ganz allein in dem
großen Walde. Sie flocht sich ein Bett aus Grashalmen und hing es unter
einem Klettenblatte auf, so war sie vor dem Regen geschützt; sie
pflückte das süße der Blumen zur Speise und trank vom Tau, der
jeden Morgen auf den Blättern lag. So verging Sommer und Herbst. Aber nun
kam der Winter, der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die so schön vor
ihr gesungen hatten, flogen davon, Bäume und Blumen verdorrten; das
große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen und
es blieb nichts als ein gelber verwelkter Stängel zurück.
Däumelinchen fror schrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei und sie war
selbst so fein und klein, sie musste erfrieren. Es fing an zu schneien, und
jede Schneeflocke, die auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine ganz
Schaufel voll wirft, denn wir sind groß, und sie war nur einen Zoll lang.
Da hüllte sie sich in ein verdorrtes Blatt ein, aber das wollte nicht
wärmen, sie zitterte vor Kälte.
Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes Kornfeld,
aber das Korn war schon lange abgeschnitten, nur die nackten trocknen Stoppeln
standen aus der gefrorenen Erde hervor. Sie waren gerade wie ein ganzer Wald
für sie zu durchwandern und sie zitterte vor Kälte! Da gelangte sie
vor die Türe der Feldmaus, die ein kleines Loch unter den Kornstoppeln
hatte. Da wohnte die Feldmaus warm und gut, hatte die ganze Stube voll Korn,
eine herrliche Küche und Speisekammer. Das arme Däumelinchen stellte
sich in die Türe, gerade wie jedes andere arme Bettelmädchen, und bat
um ein kleines Stück von einem Gerstenkorn, denn sie hatte in zwei Tagen
nicht das Mindeste zu essen gehabt.
"Du kleines Wesen!" Sagte die Feldmaus, denn im Grunde war es eine
gute alte Feldmaus, "komm herein in meine warme Stube und iss mit
mir!"
Da ihr nun Däumelinchen gefiel, sagte sie: "Du kannst den Winter
über bei mir bleiben, aber du musst meine Stube sauber und rein halten und
mit Geschichten erzählen, denn die liebe ich sehr." Däumelinchen
tat, was die gute alte Feldmaus verlangte, und hatte es außerordentlich
gut.
"Nun werden wir bald Besuch erhalten!" sagte die Feldmaus. "Mein
Nachbar pflegt mich wöchentlich einmal zu besuchen. Er steht sich noch
besser als ich, hat große Säle und trägt einen schönen
schwarzen Samtpelz! Wenn du den zum Manne bekommen könntest, so
wärest du gut versorgt; aber er kann nicht sehen. Du musst ihm die
niedlichsten Geschichten erzählen, die du weißt!"
Aber darum kümmerte sich Däumelinchen nicht, sie mochte den Nachbar
gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf.
Er kam und stattete den Besuch in seinem schwarzen Samtpelz ab. Er sei reich
und gelehrt, sagte die Feldmaus; seine Wohnung war auch zwanzigmal
größer als die der Feldmaus. Gelehrsamkeit besaß er, aber die
Sonne und die schönen Blumen mochte er gar nicht leiden, von diesen sprach
er schlecht, denn er hatte sie noch nie gesehen.
Däumelinchen musste singen, und sie sang: "Maikäfer,
fliege!" und "Geht der Pfaffe auf das Feld." Da wurde der
Maulwurf in sie, der schönen Stimme wegen, verliebt, aber er sagte nichts,
er war ein besonnener Mann.
Er hatte sich vor kurzem einen langen Gang durch die Erde von seinem bis zu
ihrem Hause gegraben; in diesem erhielten die Feldmaus und Däumelinchen
die Erlaubnis, zu spazieren, soviel sie wollten. Aber er bat sie, sich nicht
von dem toten Vogel zu fürchten, der in dem Gange liege; es war ein ganzer
Vogel mit Federn und Schnabel, der sicher erst kürzlich gestorben und nun
begraben war, gerade wo er seinen Gang gemacht hatte.
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