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Däumelinchen
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 2 ( von 7 )
Die alte Kröte saß unten im Morast und putzte ihre Stube mit Schilf
und gelben Fischblattblumen - es sollte da recht hübsch für die neue
Schwiegertochter werden - und schwamm dann mit dem hässlichen Sohn zu dem
Blatte hinaus, wo Däumelinchen stand. Sie wollten ihr hübsches Bett
holen, das sollte in das Brautgemach gestellt werden, bevor sie es selbst
betrat. Die alte Kröte verneigte sich tief im Wasser vor ihr und sagte:
"Hier siehst du meinen Sohn; er wird dein Mann sein, und ihr werdet recht
prächtig unten im Morast wohnen!"
Däumelinchen segelte vor vielen Städten vorbei, und die kleinen
Vögel saßen in den Büschen, sahen sie und sangen: "Welch
liebliches kleines Mädchen!" Das Blatt schwamm mit ihr immer weiter
und weiter fort; so reiste Däumelinchen außer Landes.
Ein niedlicher weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ
sich zuletzt auf das Blatt nieder, denn Däumelinchen gefiel ihm. Diese war
sehr erfreut, denn nun konnte die Kröte sie nicht erreichen, und es war so
schön, wo sie fuhr; die Sonne schien auf das Wasser, dieses glänzte
wie das herrlichste Gold. Sie nahm ihren Gürtel, band das Ende um den
Schmetterling, das andere Ende des Bandes befestigte sie am Blatte, das glitt
nun viel schneller davon und sie mit, denn sie stand ja auf demselben.
Da kam ein großer Maikäfer angeflogen, der erblickte sie und schlug
augenblicklich seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf einen
Baum; das grüne Blatt schwamm den Fluss hinab und der Schmetterling mit,
denn er war an das Blatt gebunden und konnte nicht von demselben loskommen.
Wie war das arme Däumelinchen erschrocken, als der Maikäfer mit ihr
auf den Baum flog! Aber hauptsächlich war sie des schönen
weißen Schmetterlings wegen betrübt, den sie an das Blatt
festgebunden hatte; im Fall er sich nicht befreien konnte, musste er ja
verhungern. Aber darum kümmerte sich der Maikäfer gar nicht. Er
setzte sich mit ihr auf das größte grüne Blatt des Baumes, gab
ihr das Süße der Blumen zu essen und sagte, dass sie niedlich sei,
obgleich sie einem Maikäfer durchaus nicht gleiche. Später kamen alle
die andern Maikäfer, die im Baume wohnten, und besuchten sie; sie
betrachteten Däumelinchen, und die Maikäferfräulein
rümpften die Fühlhörner und sagten: "Sie hat doch nicht
mehr als zwei Beine; das sieht erbärmlich aus." - "Sie hat keine
Fühlhörner!" sagte eine andere. Sie ist so schlank in der Mitte;
pfui, sie sieht wie ein Mensch aus!
Wie hässlich sie ist!" sagten alle Maikäferrinnen, und doch war
Däumelinchen so niedlich. Das erkannte auch der Maikäfer, der sie
geraubt hatte, aber als alle andern sagten, sie sei hässlich, so glaubte
er es zuletzt auch und wollte sie gar nicht haben; sie konnte gehen, wohin sie
wollte. Sie flogen mit ihr den Baum hinab und setzten sie auf ein
Gänseblümchen; da weinte sie, weil sie so hässlich sei, dass die
Maikäfer sie nicht haben wollten, und doch war sie das Lieblichste, das
man sich denken konnte, so fein und klar wie das schönste Rosenblatt.
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