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Däumelinchen
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 6 ( von 7 )
"Quivit, quivit!" ertönte es plötzlich über ihrem
Kopfe, sie sah empor, es war die kleine Schwalbe, die gerade vorbei kam. Sobald
sie Däumelinchen erblickte, wurde sie sehr erfreut; diese erzählte
ihr, wie ungern sie den hässlichen Maulwurf zum Manne haben wolle, und
dass sie dann tief unter der Erde wohnen solle, wo nie die Sonne scheine. Sie
konnte sich nicht enthalten, dabei zu weinen.
"Nun kommt der kalte Winter", sagte die kleine Schwalbe; "ich
fliege weit fort nach den warmen Ländern, willst du mit mir kommen? Du
kannst auf meinem Rücken sitzen! Binde dich nur mit deinem Gürtel
fest, dann fliegen wir von dem hässlichen Maulwurf und seiner dunklen
Stube fort, weit weg über die Berge, nach den warmen Ländern, wo die
Sonne schöner scheint als hier, wo es immer Sommer ist und die
herrlichsten Blumen gibt. Fliege nur mit mir, du liebes kleines
Däumelinchen, die mein Leben gerettet hat, als ich wie tot in dem dunklen
Erdkeller lag!"
"Ja, ich werde mit dir kommen!" sagte Däumelinchen und setzte
sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seine entfalteten
Schwingen, band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest, und
da flog die Schwalbe hoch in die Luft hinauf, über Wald und über See,
hoch hinauf über die großen Berge, wo immer Schnee liegt;
Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber dann verkroch sie sich unter
des Vogels warmen Federn und streckte nur den kleinen Kopf hervor, um all die
Schönheiten unter sich zu bewundern.
Da kamen sie dann nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit
klarer als hier, der Himmel war zweimal so hoch, und an Gräben und Hecken
wuchsen die schönsten grünen und blauen Weintrauben. In den
Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen, hier duftete es von Myrten und
Krausminze, auf den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und
spielten mit großen bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog noch
weiter fort, und es wurde schöner und schöner. Unter den herrlichsten
grünen Bäumen an dem blauen See stand ein blendend weißes
Marmorschloss, noch aus alten Zeiten. Weinreben rankten sich um die hohen
Säulen empor; ganz oben waren viele Schwalbennester, und in einem
derselben wohnte die Schwalbe, welche Däumelinchen trug.
"Hier ist mein Haus!" sagte die Schwalbe. "Aber willst du dir
nun selbst eine der prächtigen Blumen, die da unten wachsen, aussuchen,
dann will ich dich hineinsetzen und du sollst es so gut haben, wie du nur es
wünschest!"
"Das ist herrlich!" sagte Däumelinchen und klatschte in die
Hände.
Da lag eine große weiße Marmorsäule, welche zu Boden gefallen
und in drei Stücke gesprungen war, aber zwischen diesen wuchsen die
schönsten großen weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit
Däumelinchen hinunter und setzte sie auf eins der breiten Blätter.
Aber wie erstaunte diese! Da saß ein kleiner Mann mitten in der Blume, so
weiß und durchsichtig, als wäre er von Glas, die niedlichste
Goldkrone trug er auf dem Kopfe und die herrlichsten klaren Flügel an den
Schultern, selbst war er nicht größer als Däumelinchen. Es war
der Blumenengel. In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, aber
dieser war der König über alle.
"Gott, wie ist er schön!" flüsterte Däumelinchen der
Schwalbe zu. Der kleine Prinz erschrak sehr über die Schwalbe, denn sie
war ja gegen ihn, der so klein und fein war, ein Riesenvogel, aber als er
Däumelinchen erblickte, wurde er hoch erfreut, sie war das schönste
Mädchen, das er je gesehen hatte. Deswegen nahm er seine Goldkrone vom
Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie heiße und ob sie seine
Frau werden wolle, dann solle sie Königin über alle Blumen werden!
Ja, das war wahrlich ein anderer Mann als der Sohn der Kröte und der
Maulwurf mit dem schwarzen Pelze.
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