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Däumelinchen
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 5 ( von 7 )
Den ganzen Winter blieb sie nun da unten, Däumelinchen pflegte sie und
hatte sie lieb, weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhr etwas davon, denn
sie mochten die arme Schwalbe nicht leiden.
Sobald der Frühling kam und die Sonne die Erde erwärmte, sagte die
Schwalbe Däumelinchen Lebewohl, die das Loch öffnete, welches der
Maulwurf oben gemacht hatte. Die Sonne schien herrlich zu ihnen herein und die
Schwalbe fragte, ob sie mitkommen wolle, sie könnte auf ihrem Rücken
sitzen, sie wollten weit in den grünen Wald hineinfliegen. Aber
Däumling wusste, dass es die alte Feldmaus betrüben würde, wenn
sie sie verließe.
"Nein, ich kann nicht!" sagte Däumelinchen.
"Lebe wohl, lebe wohl, du gutes niedliches Mädchen!" sagte die
Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelinchen sah ihr nach
und das Wasser trat ihr in die Augen, denn sie war der armen Schwalbe von
Herzen gut.
"Quivit, quivit!" sang der Vogel und flog in den grünen Wald.
Däumelinchen war recht betrübt. sie erhielt gar keine Erlaubnis, in
den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, welches auf dem Felde,
über dem Hause der Feldmaus gesät war, wuchs auch hoch in die Luft
empor; das war ein ganz dicker Wald für das arme kleine Mädchen, das
nur einen Zoll lang war.
"Nun sollst du im Sommer deine Aussteuer nähen!" sagte die
Feldmaus zu ihr; denn der Nachbar, der langweilige Maulwurf in dem schwarzen
Samtpelze, hatte um sie gefreit. "Du musst sowohl Wollen- wie Leinenzeug
haben, denn es darf dir an nichts fehlen, wenn du des Maulwurfs Frau
wirst!"
Däumelinchen musste auf der Spindel spinnen, und die Feldmaus mietete vier
Spinnen, welche Tag und Nacht für sie spannen und webten. Jeden Abend
besuchte sie der Maulwurf und sprach dann immer davon, dass, wenn der Sommer zu
Ende gehe, die Sonne lange nicht so war scheinen werde, sie brenne ja jetzt die
Erde fest wie einen Stein; ja, wenn der Sommer vorbei sei, dann wolle er mit
Däumelinchen Hochzeit halten. Aber sie war gar nicht erfreut darüber,
denn sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht leiden. Jeden Morgen wenn die
Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, stahl sie sich zur Tür
hinaus, und wenn dann der Wind die Kornähren trennte, so dass sie den
blauen Himmel erblicken konnte, dachte sie daran, wie hell und schön es
hier draußen sei, und wünschte sehnlichst, die liebe Schwalbe
wiederzusehen; aber sie kam nicht wieder, sie war gewiss weit weg in den
schönen grünen Wald gezogen.
Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer fertig.
"In vier Wochen sollst du Hochzeit halten!" sagte die Feldmaus. Aber
Däumelinchen weinte und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht
haben.
"Schnickschnack!" sagte die Feldmaus. "Werde nicht
widerspenstig, denn sonst werde ich dich mit meinen weißen Zähnen
beißen! Es ist ja ein schöner Mann, den du bekommst! Die
Königin selbst hat keinen solchen schwarzen Samtpelz! Er hat Küche
und Keller voll. Danke du Gott für ihn!"
Nun sollten sie Hochzeit haben. Der Maulwurf war schon gekommen,
Däumelinchen zu holen; sie sollte bei ihm wohnen, tief unter der Erde, nie
an die warme Sonne herauskommen, denn die mochte er nicht leiden. Das arme Kind
war sehr betrübt; sie sollte nun der schönen Sonne Lebewohl sagen,
die sie doch bei der Feldmaus vor der Türe hatte sehen dürfen.
"Lebe wohl, du helle Sonne!" sagte sie, streckte die Arme hoch empor
und ging auch eine kleine Strecke weiter vor dem Hause der Feldmaus; denn nun
war das Korn geerntet, und hier standen nur die trocknen Stoppeln. "Lebe
wohl, lebe wohl!" sagte sie und schlang ihre Arme um eine kleine rote
Blume, die da stand. "Grüße die kleine Schwalbe von mir, wenn
du sie zu sehen bekommst!"
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