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Rapunzel
Märchen der Gebrüder Grimm, Seite 1 ( von 2 )
Es war einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange
vergeblich ein Kind, endlich machte sich die Frau Hoffnung der liebe Gott werde
ihren Wunsch erfüllen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines
Fenster, daraus konnte man in einen prächtigen Garten sehen, der voll der
schönsten Blumen und Kräuter stand; er war aber von einer hohen Mauer
umgeben, und niemand wagte hinein zu gehen, weil er einer Zauberin
gehörte, die große Macht hatte, und von aller Welt gefürchtet
wurde. Eines Tags stand die Frau an diesem Fenster und sah in den Garten hinab,
da erblickte sie ein Beet, dass mit den schönsten Rapunzeln bepflanzt war;
und sie sahen so frisch und grün aus, dass sie lüstern ward und das
größte Verlangen empfand von den Rapunzeln zu essen. Das Verlangen
nahm jeden Tag zu, und da sie wusste dass sie keine davon bekommen konnte, so
fiel sie ganz ab, sah elend und blass aus. Da erschrak der Mann und fragte:
"Was fehlt dir, liebe Frau?" "Ach", antwortete sie,
"wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen
kriege, so sterbe ich". Der Mann, der sie lieb hatte, dachte: "Eh du
deine Frau sterben lässt, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag kosten
was es will." In der Abenddämmerung stieg er also über die Mauer
in den Garten der Zauberin, stach in aller Eile eine Hand voll Rapunzeln und
brachte sie seiner Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und aß sie
in voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut geschmeckt, so gut
geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam. Sollte sie
Ruhe haben, so musste der Mann noch einmal in den Garten steigen. Er machte
sich also in der Abenddämmerung wieder hinab, als er aber die Mauer
herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er sah die Zauberin vor sich
stehen. "Wie kannst du es wagen", sprach sie mit zornigem Blick,
" in meinen Garten zu steigen und wie ein Dieb mir mein Rapunzeln zu
stehlen? Das soll dir schlecht bekommen." "Ach", antwortete er,
"lasst Gnade vor Recht ergehen, ich habe mich nur aus Not dazu
entschlossen; meine Frau hat eure Rapunzeln aus dem Fenster erblickt, und
empfindet ein so großes Gelüsten, dass sie sterben würde, wenn
sie nicht davon zu essen bekäme." Da ließ die Zauberin in ihrem
Zorne nach und sprach zu ihm: "Verhält es sich so, wie du sagst, so
will ich dir gestatten Rapunzeln mitzunehmen so viel du willst, allein ich
mache eine Bedingung, du musst mir das Kind geben, dass deine Frau zur Welt
bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine
Mutter." Der Mann sagte in der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen
kam, so erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den Namen Rapunzel und
nahm es mit sich fort.
Rapunzel ward das schönste Kind unter der Sonne. Als es zwölf Jahre
alt war, schloss es die Zauberin in einen Turm, der in einem Walde lag, und
weder Treppe noch Türe hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen.
Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten hin, und rief:
"Rapunzel, Rapunzel,
lass mir dein Haar herunter."
Rapunzel hatte lange prächtige Haare, fein wie gesponnenes Gold. Wenn sie
nun die Stimme der Zauberin vernahm, so band sie ihre Zöpfe los, wickelte
sie oben um einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig Ellen tief
hinunter, und die Zauberin stieg daran hinauf.
Nach ein paar Jahren trug es sich zu, dass der Sohn des Königs durch den
Wald ritt und an dem Turm vorüber kam. Da hörte er einen Gesang, der
war so lieblich, dass er still hielt und horchte. Das war Rapunzel, die in
ihrer Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre süße Stimme
erschallen zu lassen. Der Königssohn wollte zu ihr hinauf steigen und
suchte nach einer Türe des Turms, aber es war keine zu finden. Er ritt
heim, doch der Gesang hatte ihm so sehr das Herz gerührt, dass er jeden
Tag hinaus in den Wald ging und zuhörte.
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