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Dornröschen
Märchen der Gebrüder Grimm, Seite 1 ( von 2 )
Vor Zeiten war ein König und eine Königin, die sprachen jeden Tag:
"Ach, wenn wir doch ein Kind hätten!" und kriegten immer keins.
Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, dass ein Frosch
aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach: "Dein Wunsch wird
erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt
bringen." Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin
gebar ein Mädchen, das war so schön, dass der König vor Freude
sich nicht zu lassen wusste und ein großes Fest anstellte. Er lud nicht
bloß seine Verwandte, Freunde und Bekannte, sondern auch die weisen
Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären. Es waren ihrer
dreizehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldenen Teller hatte,
von welchem sie essen sollten, so musste eine von ihnen daheim bleiben. Das
Fest ward mit aller Pracht gefeiert, und als es zu Ende war, beschenkten die
weißen Frauen das Kind mit ihren Wundergaben: die eine mit Tugend, die
andere mit Schönheit, die dritte mit Reichtum, und so mit allem, was auf
der Welt zu wünschen ist. Als elfe ihre Sprüche eben getan hatten,
trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte sich dafür
rächen, dass sie nicht eingeladen war, und ohne jemand zu
grüßen oder nur anzusehen, rief sie mit lauter Stimme: "Die
Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel
stechen und tot hinfallen." Und ohne ein Wort weiter zu sprechen, kehrte
sie um, und verließ den Saal. Alle waren erschrocken, da trat die
zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte und weil sie den
bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie:
"Es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer
Schlaf, in welchem die Königstochter fällt." Der König, der
sein liebes Kind vor dem Unglück gern bewahren wollte, ließ den
Befehl ausgehen, dass alle Spindeln im ganzen Königreiche sollten
verbrannt werden. An dem Mädchen aber wurden die Gaben der weisen Frauen
sämtlich erfüllt, denn es war so schön, sittsam, freundlich und
verständig, dass es jedermann, der es ansah, lieb haben musste. Es
geschah, dass an dem Tage, wo es gerade fünfzehn Jahre alt ward, der
König und die Königin nicht zu Hause waren, und das Mädchen ganz
allein im Schloss zurückblieb. Da ging es allen Ortes herum, besah Stuben
und Kammern, wie es Lust hatte, und kam endlich auch an einen alten Turm. Es
stieg die enge Wendeltreppe hinauf, und gelangte zu einer kleinen Türe. In
dem Schloss steckte ein verrosteter Schlüssel, und als es umdrehte, sprang
die Tür auf, und da saß in einem kleinen Stübchen eine alte
Frau mit einer Spindel und spann emsig ihren Flachs. "Guten Tag, du altes
Mütterchen," sprach die Königstochter, "was machst du
da?" "Ich spinne," sagte die Alte und nickte mit dem Kopf.
"Was ist das für ein Ding, das so lustig herum springt?" sprach
das Mädchen, nahm die Spindel und wollte auch spinnen. Kaum hatte sie aber
die Spindel angerührt, so ging der Zauberspruch in Erfüllung, und sie
stach sich damit in den Finger.
In dem Augenblick aber, wo sie den Stich empfand, fiel sie auf das Bett nieder,
das da stand, und lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete
sich über das ganze Schloss: der König und die Königin, die eben
heim gekommen waren und in den Saal getreten waren, fingen an einzuschlafen,
und der ganze Hofstaat mit ihnen. Da schliefen auch die Pferde im Stall, die
Hunde im Hofe, die Tauben auf dem Dache, die Fliegen an der Wand, ja, das
Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten
hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er
etwas versehen hatte, an den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und
schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte
sich kein Blättchen mehr.
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