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Rotkäppchen
Märchen der Gebrüder Grimm, Seite 1 ( von 2 )
Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der
sie nur ansah, am allerliebsten aber ihre Großmutter, die wusste gar
nicht, was sie alles dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm ein
Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das so wohl stand, und es nichts
anderes mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages
sprach seine Mutter zu ihm: "Komm. Rotkäppchen, da hast du ein
Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus;
sie ist krank und schwach und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es
heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf
nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas und die
Großmutter hat nichts. Und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiss nicht
guten Morgen zu sagen und guck nicht erst in alle Ecken herum." "Ich
will schon alles gut machen", sagte Rotkäppchen zur Mutter, und gab
ihr die Hand darauf. Die Großmutter aber wohnte draußen im Wald,
eine halbe Stunde vom Dorf. Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete
ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht was das für ein
böses Tier war und fürchtete sich nicht vor ihm. "Guten Tag,
Rotkäppchen", sprach er. "Schönen Dank, Wolf."
"Wo hinaus so früh, Rotkäppchen?" "Zur
Großmutter." "Was trägst du unter der Schürze?"
"Kuchen und Wein: gestern haben wir gebacken, da soll sich die kranke und
schwache Großmutter etwas zu gute tun, und sich damit stärken."
"Rotkäppchen, wo wohnt deine Großmutter?" "Noch eine
gute Viertelstunde weiter im Wald, unter den drei großen Eichbäumen,
da steht ihr Haus, unten sind die Nusshecken, das wirst du ja wissen",
sagte Rotkäppchen. Der Wolf dachte bei sich: "Das junge zarte Ding,
das ist ein fetter Bissen, der wird noch besser schmecken als die Alte. Du
musst es listig anfangen, damit du beide erschnappst." Da ging er ein
Weilchen neben Rotkäppchen her, dann sprach er: "Rotkäppchen,
sieh einmal die schönen Blumen, die da rings umher stehen, warum guckst du
dich nicht um? Ich glaube du hörst gar nicht, wie die Vöglein so
lieblich singen? Du gehst ja für dich hin als wenn du zur Schule gingst,
und ist so lustig draußen in dem Wald."
Rotkäppchen schlug die Augen auf, und als es sah wie die Sonnenstrahlen
durch die Bäume hin und her tanzten, und alles voll schöner Blumen
stand, dachte es: "Wenn ich der Großmutter eine frischen
Strauß mitbringe, der wird ihr auch Freude machen, es ist so früh am
Tag, dass ich doch zur rechten Zeit ankomme", lief vom Wege ab in den Wald
hinein und suchte Blumen. Und wenn es eine gebrochen hatte, meinte es weiter
hinaus stände eine schönere, und lief danach, und geriet immer tiefer
in den Wald hinein. Der Wolf aber ging geradewegs nach dem Haus der
Großmutter, und klopfte an die Türe. "Wer ist
draußen?" "Rotkäppchen, das bringt Kuchen und Wein, mach
auf." "Drück nur auf die Klinke," rief die
Großmutter, "ich bin zu schwach und kann nicht aufstehen." Der
Wolf drückte auf die Klinke, die Türe sprang auf und er ging, ohne
ein Wort zu sprechen, gerade zum Bett der Großmutter und verschluckte
sie. Dann tat er ihre Kleider an, setzte ihre Haube auf, legte sich in ihr Bett
und zog die vorhänge vor.
Rotkäppchen aber war nach den Blumen herum gelaufen, und als es so viel
zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter
wieder ein und es machte sich auf den Weg zu ihr. Es wunderte sich, dass die
Türe aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam
darin vor, dass es dachte: "Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird's
mir heute zu Mut, und bin sonst so gern bei der Großmutter!" Es
rief: "Guten Morgen", bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum
Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter, und
hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus. "Ei,
Großmutter, was hast du für große Ohren!" "Dass ich
dich besser hören kann."
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