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Der Sandmann
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 1 ( von 7 )
Es gibt Niemand in der ganzen Welt, der so viele Geschichten weiß als der
Sandmann! Er kann ordentlich erzählen.
Gegen Abend, wenn die Kinder noch am Tische oder auf ihrem Schemel sitzen,
kommt der Sandmann; er kommt die Treppe sachte herauf, denn er geht auf Socken;
er macht ganz leise die Türen auf und husch! da spritzt er den Kindern
süße Milch in die Augen hinein, und das so fein, aber immer genug,
dass die Augen nicht offen halten und ihn deshalb auch nicht sehen können.
Er schleicht sich gerade hinter sie, bläst ihnen sachte in den Nacken, und
dann werden sie schwer im Kopf. Aber es tut nicht weh, denn der Sandmann meint
es gut mit den Kindern; er will nur, dass sie ruhig sein sollen, und das sind
sie am schnellsten, wenn man sie zu Bette gebracht hat; sie sollen still sein,
damit er ihnen Geschichten erzählen kann.
Wenn die Kinder nun schlafen, setzt sich der Sandmann auf ihr Bett. Er ist gut
gekleidet; sein Rock ist von Seidenzeug, aber es ist unmöglich zu sagen,
von welcher Farbe, denn er glänzt grün, rot und blau, je nachdem er
sich wendet. Unter jedem Arm hält er einen Regenschirm.
Den einen, mit Bildern darauf, spannt er über die guten Kinder aus, und
dann träumen sie die ganze Nacht die herrlichsten Geschichten; auf dem
andern ist durchaus nichts, den stellt er über die unartigen Kinder. Dann
schlafen diese und haben am Morgen, wenn sie erwachen, nicht das Allergeringste
geträumt.
Nun werden wir hören, wie der Sandmann an jedem Abend in einer Woche zu
einem kleinen Knaben, welcher Friedrich hieß, kam und was er ihm
erzählte. Es sind sieben Geschichten, denn es sind sieben Tage in der
Woche.
Montag
"Höre einmal", sagte der Sandmann am Abend, als er Friedrich zu
Bette gebracht hatte, "nun werde ich aufputzen!" Da wurden alle
Blumen in den Blumentöpfen zu großen Bäumen, welche ihre langen
Zweige unter der Decke und längs der Wände ausstreckten, so dass die
ganze Stube wie ein prächtiges Lufthaus aussah; alle Zweige waren voll
Blumen, und jede Blume war noch schöner als eine Rose, duftete lieblich,
und wollte man sie essen, so war sie noch süßer als Eingemachtes!
Die Früchte glänzten gerade wie Gold, und Kuchen waren da, die vor
lauter Rosinen platzten - es war unvergleichlich schön! Aber zur gleichen
Zeit ertönte ein schreckliches Jammern aus dem Tischkasten, wo Friedrichs
Schulbücher lagen.
"Was ist das!" sagte der Sandmann und ging nach dem Tisch und zog den
Kasten auf. Es war die Tafel, in der es riss und wühlte, denn es war eine
falsche Zahl in das Rechenexempel gekommen, so dass es nahe daran war,
auseinander zu fallen; der Griffel hüpfte und sprang an seinem Bande,
gerade als ob er ein kleiner Hund wäre, der dem Rechenexempel helfen
möchte; aber er konnte es nicht. Und dann war es Friedrichs Schreibebuch,
in welchem es auch jammerte; o, es war hässlich mit anzuhören! Auf
jedem Blatte standen der Länge nach herunter die großen Buchstaben,
ein jeder mit einem kleinen zur Seite, das war eine Vorschrift; neben diesen
standen wieder einige Buchstaben, welche glaubten ebenso auszusehen, und diese
hatte Friedrich geschrieben; sie lagen fast so, als ob sie über die
Bleifederstriche gefallen wären, auf welchen sie stehen sollten.
"Seht, so solltet ihr euch halten". sagte die Vorschrift. "Seht,
so zur Seite, mit einem kräftigen Schwung!"
"O wir möchten gern", sagten Friedrichs Buchstaben, "aber
wir können nicht, wir sind so jämmerlich!"
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