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Der Sandmann
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 2 ( von 7 )
"Dann müsst ihr Kinderpulver haben!" sagte der Sandmann. "O
nein!" riefen sie, und da standen sie schlank, dass es eine Lust war.
"Jetzt wird keine Geschichte erzählt", sagte der Sandmann,
"nun muss ich sie exerzieren. Eins, zwei! Eins, zwei!" Und so
exerzierte er die Buchstaben, und sie standen so schlank und schön, wie
nur eine Vorschrift stehen kann. Aber als der Sandmann ging und Friedrich sie
am Morgen besah, da waren sie ebenso elend als früher.
Dienstag
Sobald Friedrich zu Bette war, berührte der Sandmann mit seiner kleinen
Zauberspitze alle Möbel in der Stube, und sogleich fingen sie an zu
plaudern, und allesamt sprachen sie von sich selbst, mit Ausnahme des
Spucknapfes, welcher stumm dastand und sich darüber ärgerte, dass sie
so eitel sein konnten, nur von sich selbst zu reden, nur an sich selbst zu
denken und durchaus keine Rücksicht auf den zu nehmen, der doch so
bescheiden in der Ecke stand und sich bespucken ließ.
Über der Kommode hing ein großes Gemälde in einem vergoldeten
Rahmen, das war eine Landschaft; man sah darauf große alte Bäume,
Blumen im Grase und einen großen Fluss, welcher um den Wald herumfloss an
vielen Schlössern vorbei, und weit hinausströmte in das wilde Meer.
Der Sandmann berührte mit seiner Zauberspitze das Gemälde, und da
begannen die Vögel darauf zu singen, die Baumzweige bewegten sich und die
Wolken zogen weiter, man konnte ihren Schatten über die Landschaft hin
erblicken.
Nun hob der Sandmann den kleinen Friedrich gegen den Rahmen empor und stellte
seine Füße in das Gemälde, gerade in das hohe Gras, und da
stand er, die Sonne beschien ihn durch die Zweige der Bäume. Er lief hin
zum Wasser und setzte sich in ein kleines Boot, welches dort lag; es war rot
und weiß angestrichen, das Segel glänzte wie Silber, und sechs
Schwäne, alle mit Goldkronen um den Hals und einen strahlenden blauen
Stern auf dem Kopf, zogen das Boot an dem grünen Walde vorbei, wo die
Bäume von Räubern und Hexen und die Blumen von den niedlichen kleinen
Elfen und von dem, was die Schmetterlinge ihnen gesagt hatten, erzählten.
Die herrlichsten Fische, mit Schuppen wie Silber und Gold, schwammen dem Boote
nach; mitunter machten sie einen Sprung, dass es im Wasser plätscherte,
und Vögel, rot und blau, klein und groß, flogen in langen Reihen
hinterher, die Mücken tanzten und die Maikäfer sagten: "Bum,
bum!" Sie wollten Friedrich alle folgen, und alle hatten eine Geschichte
zu erzählen.
Das war eine Lustfahrt! Bald waren die Wälder ganz dicht und dunkel, bald
waren sie wie der herrlichste Gärten mit Sonnenschein und Blumen. Da lagen
große Schlösser von Glas und von Marmor; auf den Altanen standen
Prinzessinnen, und alle waren es kleine Mädchen, die Friedrich gut kannte;
er hatte früher mit ihnen gespielt. Sie streckten jede die Hand aus und
hielten das niedlichste Zuckerherz hin, welches je eine Kuchenfrau verkaufen
konnte, und Friedrich fasste die eine Seite des Zuckerherzens an, indem er
vorbeifuhr, und die Prinzessin hielt recht fest, und so bekam Jedes ein
Stück, sie das kleinste, Friedrich das größte. Bei jedem
Schlosse standen kleine Prinzen Schildwache, sie schulterten mit Säbeln
und ließen Rosinen und Zinnsoldaten regnen. Das waren echte Prinzen!
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