|
Die Flasche
Irisches Märchen, Seite 1 ( von 6 )
In den guten Tagen, wo das stille Volk sich noch häufiger sehen
ließ, als jetzt in dieser ungläubigen Zeit, lebte ein Mann, Michael
Purcell, der einige Acker schlechtes und unfruchtbares Land gepachtet hatte, in
der Nachbarschaft der ehemals so berühmten Pfründe von Mourne,
anderthalb Stunden von Mallow und sieben von Cork. Michael hatte Frau und
Kinder, sie taten, was in ihren Kräften stand, das war freilich nicht
viel, denn es war noch kein Kind so weit herangewachsen, dass es dem armen
Manne bei seiner Arbeit helfen konnte, und die gute Frau besorgte die Kinder,
melkte die Kuh, kochte Kartoffeln und trug die Eier nach Mallow; doch wie sie
auch schafften, es war kaum genug, um die Pacht zu zahlen.
Sie schickten sich eine Zeit lang, so gut es gehen wollte, in die
Umstände, doch zuletzt kam ein schlechtes Jahr, das Bisschen Hafer
verdarb, die Hühnchen verkümmerten, das Schwein magerte ab und wurde
beinahe für nichts zu Mallow verkauft; und der arme Michael fand, dass er
nicht genug hatte, um die Hälfte des Pachtgeldes zu zahlen und zwei
Termine war er schon schuldig.
"Was sollen wir nun anfangen, Marie?" fragte er. "Was wir
anfangen sollen?" antwortete sie, "treib unsere Kuh auf den Markt
nach Cork und verkaufe sie dort. Montag ist Markttag, da musst du frühe
gehen, damit das arme Tier sich verschnauft, ehe es auf den Markt kommt."
"Und was sollen wir anfangen, wenn sie fort ist?" fragte Mick
bekümmert.
"Das weiß ich nicht, Michael, doch gewisslich wird und Gott nicht
verlassen und Du weißt doch, wie gütig er gegen uns war, als der
kleine Wilhelm krank lag und wir gar nichts für ihn hatten? Der Doktor von
Ballydahin, der sanfte, feine Mann kam geritten und verlangte einen Trank
Milch; er gab uns zwei Schillinge, schickte die Arzneien für das Kind und
was es sonst nötig hatte und gab mir jedes Mal etwas zu essen, wenn ich
kam, ihn um Rat zu fragen, den er mir niemals versagte; er kam auch und sah
nach dem Kinde und hörte mit seinen Wohltaten nicht auf, bis es ganz
gesund war."
"Du denkst immer so, Marie, und ich glaube, du hast Recht, darum will ich
mir auch über den Verkauf der Kuh keine Sorgen machen. Ich will Morgen
gehen, Du musst aber Nadel und Zwirn nehmen und meinen Rock flicken, er ist
unter dem Arm aufgerissen."
Marie versicherte, dass sie alles in Ordnung bringen wollte; den folgenden Tag
schickte er sich an und sie schärfte ihm beim Abschied ein, die Kuh nicht
anders zu verkaufen, als um den höchsten Preis. Michael versprach, es
nicht zu vergessen und machte sich auf den Weg. Er trieb die Kuh langsam durch
den kleinen Fluss, der den Weg durchschneidet und unter der alten Mauer von
Mourne hinrinnt. Als er vorbei kam, fielen seine Augen auf die Türme und
einen von den alten Holunderstämmen, die damals wie kleine Gärten
aussahen.
"Ja," rief er aus, "Hätte ich nur die Hälfte des
Geldes, das unter Euch begraben liegt, so brauchte ich die arme Kuh nicht dahin
zu treiben! Ist's nicht ein Jammer, dass es unter der Erde ruht, während
noch andere als ich es entbehren müssen! Nun, wenn's Gottes Wille ist, so
komme ich mit etwas Geld in der Tasche zurück." Mit diesen Worten
trieb er sein Vieh weiter. Es war ein schöner Tag und die sonne schien
glänzend auf die Mauer der alten Abtei, als er daran vorbei kam. Der Weg
führte über eine Reihe allmählich aufsteigender Berge, bis er
nach drei Stunden auf die Spitze der Anhöhe (die jetzt der Flaschenberg
heißt, aber damals den Namen noch nicht führte) gelangte, an welcher
Stelle ihn jemand einholte. "Guten Morgen!" sagte dieser. "Guten
Morgen!" antwortete Michael freundlich, und sah sich nach dem Fremden um;
es war ein kleines Männchen, dass man ihn einen Zwerg hätte nennen
können, doch war er nicht ganz so klein.
|
|