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Die Flasche
Irisches Märchen, Seite 4 ( von 6 )
"Willst du mir Zeit lassen, Marie, so will ich dir Alles haarklein
erzählen. Wo unsere Kuh ist, möchtest Du gern wissen; aber das kann
ich Dir nicht sagen, denn ich weiß am allerwenigsten wo sie ist."
"Was hast Du dafür gelöst, Michael? heraus mit dem Geld."
"Kleine Geduld, Marie, und Du sollst Alles höhren."
"Aber was ist das für eine Flasche unter Deiner Weste?" fragte
Marie, die den hervorragenden Hals bemerkte.
"Nun sei vergnügt," sagte Michael, "doch ich muss Dir erst
erzählen!" und stellte die Flasche auf den Tisch. "Das ist
Alles, was ich für die Kuh bekommen habe."
Die arme Frau war wie vom Donner gerührt. "Alles was Du bekommen
hast! und wozu taugt das, Michael? So hätte ich doch mein Lebtag nicht
gedacht, dass du ein solcher Mann wärest. Wie willst Du nun die Pacht
bezahlen?"
"Willst du Vernunft annehmen, Marie?" sagte Michael, "so will
ich Dir erzählen, wie der alte Mann oder was er sonst war, mir begegnete,
nein, er begegnete mir nicht, sondern er war da bei mir, oben auf dem Berg, und
wie er mich dazu bewog, ihm die Kuh zu verkaufen und mir sagte, diese Flasche
wäre etwas für mich."
"Wahrhaftig bloß für Dich, Du Narr!" sagte Marie und griff
nach der Flasche, um sie ihrem armen Mann an den Kopf zu werfen. Aber Michael
fasste sie geschwind, machte sie ganz gelassen ( denn er erinnerte sich an den
Befehl des Kleinen) von den Händen seines Weibes los und steckte sie
wieder vor seine Brust. Die arme Marie weinte, während ihr Michael seine
Geschichte erzählte und sich dabei oft bekreuzigte und segnete. Indessen
konnte sie nicht umhin, ihm Glauben beizumessen, zumal sie an Geister glaubte.
Ohne ein Wort zu sprechen, stand sie auf und fing an, die Flur mit einem
Büschel Heidekraut zu kehren. Hier rauf ordnete sie Alles, setzte den
langen Tisch zurecht und deckte ein reines Tuch, das einzige, das sie hatten,
darüber her und Michael stellte die Flasche auf die Erde und sprach:
"Flasche, tue Deine Schuldigkeit."
"Dort! dort! Mutter, sieh doch!" rief der älteste Knabe, ein
bausbackiges Kind von fünf Jahren, und sprang an seiner Mutter Seite, als
zwei winzige kleine Gestalten, wie Lichtstrahlen, aus der Flasche hervorstiegen
und in einem Augenblick den Tisch mit silbernen und goldenen Schüsseln und
Tellern besetzten, auf welche die köstlichsten Speisen lagen, und so wie
Alles in Ordnung war, wieder in die Flasche hinabstiegen. Michael und seine
Frau betrachteten Alles mit höchstem Erstaunen, denn sie hatten solche
Schüsseln und Teller ihr Lebtag nicht gesehen und glaubten, dergleichen
könnte man nicht genug bewundern, so dass sie von dem bloßen
Anschauen allen Hunger vergaßen. Endlich sagte Marie: "Komm,
Michael, und setze Dich nieder, versuch's und iss ein Wenig, Du musst ja
hungrig sein nach einem so guten Tagwerk."
Siehst Du, der Mann hat keine Unwahrheit von der Flasche gesagt."
Michael setzte sich und gab den Kindern ihren Platz an dem Tisch, sie hielten
eine herrliche Mahlzeit und doch blieb die Hälfte der Schüsseln
unangerührt.
"Mich soll doch wundern," sagte Marie, "ob die guten kleinen
Herren diese kostbaren Sachen wieder wegnehmen werden!" Sie warteten, aber
Niemand kam. Da hob Marie sorgfältig Schüsseln und Teller auf und
sprach: "Gewisslich, es war keine Unwahrheit, Du bist jetzt ein reicher
Mann, Michael Purcell."
Sie gingen alle zu Bett, doch nicht, um zu schlafen, sondern um zu verabreden,
wie sie diese köstlichen Dinge, deren sie nicht bedurften, zu Geld machen
wollten, um mehr Ländereien zu übernehmen. Michael ging nach Cork,
verkaufte seine Goldschüsseln, erhandelte sich Wagen und Pferd, und
überlegte, wie er viel Geld erwerben könnte. Sie gaben sich alle
Mühe, die Flasche geheim zu halten, doch vergeblich; der Gutsherr brachte
es heraus.
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