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Geschichte
des Rebhuhns mit den Schildkröten
Tausend und eine Nacht, Gustav Weil, Seite 1 ( von 5 )
Einst lebten Schildkröten auf einer sehr fruchtbaren, mit vielen
Bäumen bepflanzten Insel. Da flog eines Tages ein Rebhuhn vorbei, das
wegen der großen Hitze einen kühlen Ruheplatz suchte, und ließ
sich neben dem Neste der Schildkröten nieder. Als die Schildkröten
von ihrem Ausfluge zurückkehrten und das Rebhuhn sahen, fanden sie es so
ausgezeichnet schön, dass sie sich mit seiner Gesellschaft freuten und
sagten: "Das ist gewiss der Herr aller Vögel." Sie näherten
sich ihm daher so freundlich, dass es jeden Abend, nachdem es den Tag über
auf der Insel umhergestreift war und Korn aufgelesen hatte, wieder zu ihnen
zurückkehrte. die Schildkröten gewannen es aber bald so lieb, dass es
ihnen schwer fiel, den ganzen Tag von ihm getrennt zu leben. Sie sagten daher
eine zur andern: "Wir müssen ein Mittel finden, das Rebhuhn ganz an
uns zu fesseln, dass wir auch am Tage uns an ihm ergötzen und nicht zu
befürchten haben, dass es einmal auf seinen Ausflügen sich an einen
andern Vogel anschließe und uns ganz verlasse." Da sagte einer von
den Schildkröten: "Ich will euch aus dieser Verlegenheit
helfen."
Die Schildkröten näherten sich eines Abends dem Rebhuhn, als es
heimkehrte, wünschte ihm guten Abend, küsste die Erde vor ihm und
sagte: "Gott hat dir unsere Liebe in vollem Maße geschenkt und uns
eben so mit der deinigen gesegnet. Doch der Liebende findet nur Ruhe in der
Nähe seiner Geliebten, jede Trennung aber bringt ihm herben Schmerz; wir
können aus Wohlgefallen an dir dich gar nicht genug sehen und in deiner
Abwesenheit gar keine Freude genießen, und doch sind wir so wenig
beisammen: das kränkt uns sehr; auch du musst sehr leiden, wenn deine
Liebe der unsrigen gleich ist." Das Rebhuhn sagte: "Mir ist nur wohl,
wenn ich bei euch bin, doch was soll ich mit meinen zwei Flügeln anfangen,
die mich immer von euch treiben?" Die Schildkröte antwortete:
"Wenn dir deine Flügel alle Ruhe und alles Vergnügen rauben und
dich dazu noch der Gefahr aussetzen, von einem deiner Feinde unter den
Vögeln auf dem Fluge ergriffen zu werden, so lege sie ab, bleibe bei uns
und lasse es dir wohl sein in unserm Überflusse." - "Wie kann
ich das?" sagte das Rebhuhn. Da sagte die Schildkröte:
"Reiße eine Feder nach der andern mit deinem Schnabel aus, bis keine
einzige mehr übrig bleibt." Das Rebhuhn verlor keinen Augenblick,
diesen Rat zu befolgen. Das Schicksal führte aber gerade ein Wiesel
vorüber, das auch auf dieser Insel wohnte; es sah mit Erstaunen das kahle
Rebhuhn und rief: "Nun ist mein Glück gemacht, nun entgeht mir dieses
Rebhuhn nicht mehr." Es sprang sogleich auf das Rebhuhn los, das vergebens
seine federlosen Flügel aufschlug, um zu entfliehen; es ward vom Wiesel
ergriffen und zerrissen. Die Schildkröten, vor deren Augen dies geschah,
weinten vor Mitleid. Als aber das Rebhuhn sie fragte, ob sie mit etwas Anderem,
als mit Tränen ihm helfen könnten, sagte sie: "In Wahrheit,
gegen ein solches Übel wissen wir nichts Anderes zu tun." Da sagte
das Rebhuhn: "Weinet nicht, ihr seid unschuldig, ich selbst habe mein
Unglück herbeigezogen."
"So muss auch ich," sagte der König, "nun mir selbst
Vorwürfe machen, dass ich euren Rat befolgt und die Wackersten und
Klügsten in meinem Reiche umgebracht habe, Die, welche mich am meisten
liebten und mich am besten gegen meinen Feind schützen konnten! und finde
ich jetzt keinen Ersatz für sie, so muss ich, wie jenes Rebhuhn,
untergehen." Der König ging dann in das Zimmer, wo die Leichen seiner
Veziere und Gelehrten lagen, und weinte heftig und schrie: "O könnte
doch Jemand diese Toten nur einen Augenblick wieder beleben, dass ich ihnen
mein Verbrechen bekenne und ihnen meinen Zustand klage." Nachdem er den
ganzen Tag, ohne zu essen oder zu trinken, in tiefster Trauer in diesem Zimmer
zugebracht hatte, zog er schlechte Kleider an und streifte verkleidet in der
Stadt umher.
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