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Geschichte
der Spinne mit dem Winde
Tausend und eine Nacht, Gustav Weil, Seite 1 ( von 6 )
Wisse, o König! Eine Spinne setzte sich einst an einem hohen Mastbaume
fest, baute sich dort ihr Haus, wohnte darin in voller Ruhe und dankte Gott
für den sichern Zufluchtsort, den sie gefunden. Aber nach einiger Zeit
wollte Gott ihre Geduld und Ausdauer prüfen; er ließ einen heftigen
Sturm wehen, der sie samt ihrem Hause wegriss und auf das tobende Meer
schleuderte. Aber bald trieben die Wellen sie wieder an's Land und sie dankte
Gott für ihre Rettung; doch stellt sie den Wind zur Rede und sagte:
"Warum hast du aus meiner Wohnung mich vertrieben, ist das von Gott
erlaubt?" Der Wind antwortete: "O Spinne! weißt du nicht, dass
diese Welt eine Wohnung des Unglücks ist? wem hat je das Glück immer
gelächelt? weißt du nicht, dass Gott seine Geschöpfe versucht,
um ihre Geduld zu prüfen? was klagst du, da er dich aus dem furchtbaren
Meer gerettet? Die Spinne antwortete: "Du hast Recht, ich bin Gott Dank
schuldig und ich vertraue ihm auch, er wird in diesem fremden Lande mein
Führer sein und mich in meine Heimat zurückbringen." Hierauf
versetzte der Wind: "Ich selbst hoffe mit dem nächsten Westwinde dich
wieder mitzunehmen, weil du so dankbar und so gottergeben bist; vertraue nur
auf Gott; wer ihm vertraut, dem kommt er entgegen, wer mit Geduld ausharrt, der
erreicht das Ziel." Die spinne betete nun mit noch mehr Hingebung zu Gott;
Gott erhörte ihr Gebet und gebot einem sanften Winde, sie wieder in ihre
Heimat zu tragen. - "So wollen auch wir jetzt zu Gott beten, der lange
deine Ausdauer geprüft und nun in deinem Alter dir noch einen Sohn
geschenkt hat, dass er diesem verleihe, was er dir an Macht und Ruhm
verliehen." Als der König die sieben Veziere vernommen und ihnen
für ihr Lob und ihre Glückwünsche gedankt hatte, sagte er:
"Wisset, o Veziere! Gottes Beschluss ist unabänderlich, sein Wille
geschehe an meinem Sohne; was er voraus bestimmt hat, trifft sicher ein, als
Alles, was ihr von dessen Widerspenstigkeit und Treulosigkeit voraussehet;
lasset uns hoffen, dass Gott ihn segnen und zu einem frommen, tugendhaften
Regenten heranwachsen lassen wird! Amen."
Hierauf erhoben sich die Veziere und verbeugten sich vor dem König, der
sie mit reichen Geschenken entließ. Dann ging der König zu seinem
Sohne, küsste und segnete ihn und nannte ihn Wardchan. Als der Prinz
zwölf Jahre alt war, ließ ihm der König ein Schloss bauen mit
dreihundert und sechzig Gemächern, und übergab ihn drei Lehrern, die
ihn in allen Wissenschaften unterrichten sollten. Sie mussten jeden Tag in
einem andern Zimmer zubringen, und wenn sie es verließen, auf die
Türe schreiben, was der Prinz an diesem Tage gelernt, und alle sieben Tage
dem König Bericht erstatten. Da der Prinz viel Verstand, Geist und
Gedächtnis hatte, auch mit derselben Lust die Lehren aufnahm, wie ein
Kranker ein Arzneimittel, durch welches er seine Gesundheit wieder zu erlangen
hofft, so bezeichneten sie dem König ihre Zufriedenheit mit demselben und
sagten ihm, sie hätten in ihrem Leben keinen Schüler gehabt, der
Alles so leicht begreife; sie scheuten auch daher keine Mühe, um ihn Alles
zu lehren, was sie wussten, weshalb ihnen der König immer mehr Ehre
erwies. Bald übertraf Wardchan alle seine Zeitgenossen in seinen
Kenntnissen, und die Lehrer stellten ihn seinem Vater vor mit den Worten:
"Freue dich o König! mit deinem Sohne, der Alles gelernt hat, was wir
selbst wissen." Der entzückte König dankte Gott, ließ den
Vezier Schimas rufen und teilte ihm die Worte der Lehrer seines Sohnes mit. Der
Vezier sagte: "Der rote Rubin glänzt auch aus dem härtesten
Gebirge hervor; dein Sohn aber ist eine kostbare Perle, aus andern edlen Perlen
entsprungen, und sein reicher Verstand stimmt mit seiner schönen Gestalt
überein. Nun halte ich es für angemessen, o König! dass du
morgen alle Veziere und Gelehrten und Philosophen zusammen berufest, damit sie
öffentlich sich mit dem Prinzen unterhalten und ein Jeder sich von seinen
Kenntnissen überzeuge."
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