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Hänsel
und Gretel
Märchen der Gebrüder Grimm, Seite 4 ( von 5 )
Dann ging sie zur Gretel, rüttelte sie wach und rief: "Steh auf,
Faullenzerin, trag Wasser und koch deinem Bruder etwas gutes, der sitzt
draußen im Stall und soll fett werden. Wenn er fett ist, so will ich ihn
essen." Gretel fing an bitterlich zu weinen, aber es war alles vergeblich,
sie musste tun was die böse Hexe verlangte.
Nun ward dem armen Hänsel das beste Essen gekocht, aber Gretel bekam
nichts als Krebsschalen. Jeden Morgen schlich die Alte zu dem Ställchen
und rief: "Hänsel streck deine Finger heraus, damit ich fühle,
ob du bald fett bist." Hänsel streckte ihr aber ein Knöchlein
heraus, und die Alte, die trübe Augen hatte, konnte es nicht sehen, und
meinte es wären Hänsels Finger, und wunderte sich, dass er gar nicht
fett werden wollte. Als vier Wochen herum waren und Hänsel immer mager
blieb, da übernahm sie die Ungeduld, und sie wollte nicht länger
warten. "Heda, Gretel," rief sie dem Mädchen zu, "sei flink
und trag Wasser: Hänsel mag fett oder mager sein, morgen will ich ihn
schlachten und kochen." Ach, wie jammerte das arme Schwesterchen, als es
das Wasser tragen musste, und wie flossen ihm die Tränen über die
Backen herunter! "Lieber Gott, hilf uns doch," rief sie aus,
"hätten uns nur die wilden Tiere im Wald gefressen, so wären wir
doch zusammen gestorben." "Spar nur dein Geplärre", sagte
die Alte, "es hilft dir alles nichts."
Früh Morgens musste Gretel heraus, den Kessel mit Wasser aufhängen
und Feuer anzünden. "Erst wollen wir backen" sagte die Alte,
"ich habe den Backofen schon eingeheizt und den Teig geknetet." Sie
stieß die arme Gretel hinaus zu dem Backofen, aus dem die Feuerflammen
schon heraus schlugen. "Kriech hinein", sagte die Hexe, "und
sieh zu ob recht eingeheizt ist, damit wir das Brot hineinschießen
können." Und wenn Gretel darin war, wollte sie den Ofen zumachen, und
Gretel sollte darin braten, und dann wollte sie sie auch aufessen. Aber Gretel
merkte was sie im Sinn hatte und sprach: "Ich weiß nicht wie ich's
machen soll, wie komm ich da hinein?" "Dumme Gans", sagte die
Alte, "die Öffnung ist groß genug, siehst du wohl, ich
könnte selbst hinein", krappelte heran und steckte den Kopf in den
Backofen. Da gab ihr Gretel einen Stoß dass sie weit hinein fuhr, machte
die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor. Hu! da fing sie an zu heulen,
ganz grauselich; aber Gretel lief fort, und die gottlose Hexe musste elendig
verbrennen.
Gretel aber lief schnurstracks zum Hänsel, öffnete sein
Ställchen und rief: "Hänsel, wir sind erlöst, die alte Hexe
ist tot." Da sprang Hänsel heraus, wie ein Vogel aus dem Käfig,
wenn ihm die Türe aufgemacht wird. Wie haben sie sich gefreut, sind sich
um den Hals gefallen, sind herumgesprungen und haben sich geküsst! Und
weil sie sich nicht mehr zu fürchten brauchten, so gingen sie in das Haus
der Hexe hinein, da standen in allen Ecken Kasten mit Perlen und Edelsteinen.
"Die sind noch besser als Kieselsteine" sagte Hänsel und steckte
in seine Taschen was hinein wollte, und Gretel sagte: "Ich will auch etwas
mit nach Haus bringen" und füllte sich sein Schürzchen voll.
"Aber jetzt wollen wir fort," sagte Hänsel, "damit wir aus
dem Hexenwald herauskommen." Als sie aber ein paar Stunden gegangen waren,
gelangten sie an ein großes Wasser. "wir können nicht
hinüber", sprach Hänsel, "ich sehe keinen Steg und keine
Brücke". "Hier fährt auch kein Schiffchen", antwortete
Gretel, "aber da schwimmt eine weiße Ente, wenn ich die bitte, so
hilft sie uns hinüber." Da rief sie:
"Entchen, Entchen,
da steht Gretel und Hänsel.
Kein Steg und keine Brücke,
nimm uns auf deinen weißen Rücken."
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