|
Hänsel
und Gretel
Märchen der Gebrüder Grimm, Seite 3 ( von 5 )
Als der Mond kam, machten sie sich auf, aber sie fanden kein Bröcklein
mehr, denn die vielen Vögel, die im Wald und im Felde umher fliegen, die
hatten sie weggepickt. Hänsel sagte zu Gretel: "Wir werden den Weg
schon finden", aber sie fanden ihn nicht. Sie gingen die ganze Nacht und
noch einen Tag von Morgen bis Abend, aber sie kamen aus dem Wald nicht heraus,
und waren so hungrig, denn sie hatten nichts als die paar Beeren, die auf der
Erde standen. Weil sie so müde waren, dass die Beine sie nicht mehr tragen
wollten, so legten sie sich unter einen Baum und schliefen ein.
Nun ward schon der dritte Morgen, dass sie ihres Vaters Haus verlassen hatten.
Sie fingen wieder an zu gehen, aber sie gerieten immer tiefer in den Wald und
wenn nicht bald Hilfe kam, so mussten sie verschmachten. Als es Mittag war,
sahen sie ein schönes schneeweißes Vöglein auf einem Ast
sitzen, das sang so schön, dass sie stehen blieben und ihm zuhörten.
Und als es fertig war, schwang es seine Flügel und flog vor ihnen her, und
sie gingen ihm nach, bis sie zu einem Häuschen gelangten, auf dessen Dach
es sich setzte, und als sie ganz nahe heran kamen, so sahen sie dass das
Häuslein aus Brot gebaut war, und mit Kuchen gedeckt; aber die Fenster
waren von hellem Zucker. "Da wollen wir uns dran machen", sprach
Hänsel, "und eine gesegnete Mahlzeit halten. Ich will ein Stück
vom Dach essen, Gretel, du kannst vom Fenster essen, das schmeckt
süß." Hänsel reichte in die Höhe und brach sich ein
wenig vom Dach ab, um zu versuchen wie es schmeckte, und Gretel stellte sich an
die Scheiben und knusperte daran. Da rief eine feine Stimme aus der Stube
heraus:
"Knusper, knusper, kneischen,
wer knuspert an meinem Häuschen?"
Die Kinder antworteten:
"Der Wind, der Wind,
das himmlische Kind",
und aßen weiter, ohne sich irre machen zu lassen. Hänsel, dem das
Dach sehr gut schmeckte, riss sich ein großes Stück davon herunter,
und Gretel stieß eine ganze runde Fensterscheibe heraus, setzte sich
nieder, und tat sich wohl damit. Da ging aufeinmal die Türe auf, und eine
steinalte Frau, die sich auf eine Krücke stützte, kam
herausgeschlichen. Hänsel und Gretel erschracken so gewaltig, dass sie
fallen ließen, was sie in den Händen hielten. Die Alte aber wackelte
mit dem Kopfe und sprach: "Ei, ihr lieben Kinder, wer hat euch hierher
gebracht? kommt nur herein und bleibt bei mir, es geschieht euch kein
Leid." Sie fasste beide an der Hand und führte sie in ihr
Häuschen. Da ward gutes Essen aufgetragen, Milch und Pfannkuchen mit
Zucker, Äpfel und Nüsse. Hernach wurden zwei schöne Bettlein
weiß gedeckt, und Hänsel und Gretel legten sich hinein und meinten
sie wären im Himmel.
Die Alte hatte sich nur so freundlich angestellt, sie war aber eine sehr
böse Hexe, die den Kindern auflauerte, und hatte das Brothäuslein nur
gebaut, um sie herbeizulocken. Wenn eins in ihre Gewalt kam, so machte sie es
tot, kochte es und aß es, und das war ihr ein Festtag. Die Hexen haben
rote Augen und können nicht weit sehen, aber sie haben eine feine
Witterung, wie die Tiere, und merkens wenn Menschen heran kommen. Als
Hänsel und Gretel in ihre Nähe kamen, da lachte sie boshaft und
sprach höhnisch: "Die habe ich, die sollen mir nicht wieder
entwischen." Früh Morgens, ehe die Kinder erwacht waren, stand sie
schon auf, und als sie beide so lieblich ruhen sah, mit den vollen roten
Backen, so murmelte sie vor sich hin. "Das wird ein guter Bissen
werden." Da packte sie Hänsel mit ihrer dürren Hand und trug ihn
in einen Stall und sperrte ihn mit einer Gittertüre ein; er mochte
schreien wie er wollte, es half ihm nichts.
|
|