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Sonnenkind
Märchen von Paula Dehmel, Seite 1 ( von 3 )
Kinder! Ihr müsst mich nicht gar zu sehr um neue Geschichten quälen!
seht mal, mein Geschichtsbäumchen, das hinten im Garten steht, ihr kennt
es ja, das Nussbäumchen, wird ja unwirsch, wenn ich zu oft komme. Und das
darf ich nicht böse machen, um Himmelswillen nicht! Denn wenn so ein
Geschichtenbäumchen böse wird, kann es schlimm krank werden. Dann
lässt es seine blanken Blätter hängen, und all die blauen
Schmetterlinge und die roten und gelben Vögelchen, die es sonst besuchen
kommen, fliegen erschrocken weg; bloß Spinnen und Raupen klettern an ihm
herum. Da könnt ihr euch denken, dass die Geschichten und Märchen,
die man herunterschüttelt, auch hässlich werden, so hässlich,
das, das man sie gar nicht weiter erzählen mag. Darum also, ihr
großen und kleinen Plappermäulchen, wartet, bis ich von selber mit
dem "es war einmal" anfange; dann sind die Kirschen reif und frisch
vom Baum, und schmecken gut. Aber, damit ihr heut nicht ganz leer ausgeht, will
ich euch erzählen, wie ich zu dem schönen Bäumchen gekommen bin,
und warum ich es so sehr lieb habe.
Mein Bruder Karl war zehn Jahre alt geworden und nach der Stadt aufs Gymnasium
gekommen. Ich war nun ganz allein in unserm stillen Pfarrhause. Mein
Brüderchen, dem ich so gut war, und mit dem man so schön spielen
konnte, war fort. Ich lief wie verloren umher. Kein Spielzeug mochte ich
anfassen; selbst mit Wächter, unserm großen Hunde, verstand ich mich
nicht mehr. Meine Eltern sahen das ein paar Tage mit an, sagten nichts dazu und
taten mir alles zuliebe. Als es aber nach einer Woche noch ebenso ging, nahm
mich mein Vater vor, sagte, ich wäre schon ein großes Mädchen
und dürfte mich nicht so gehen lassen. Ich sollte fleißig lesen und
lernen, dass ich nicht dümmer bliebe wie der Karl; und damit er sich recht
freue, wenn er in den Ferien nach Hause käme, sollte ich ihm eine
schöne Tasche für seine Kämme und Bürsten sticken, die das
gute Mutterle schon für mich besorgt hätte.
Erst stand ich wie aus Holz und kriegte kein Wort heraus, mir saß etwas
dickes in der Kehle, dann fing ich laut an zu schluchzen, machte kehrt, lieg
meinem Vater weg, weg aus dem Hause, die Dorfstraße entlang, immer
weiter, bis ich mitten im Felde war. Da stand die große Blutbuche auf dem
schmalen Wege und leuchtete wie Feuer, da gab es keine Menschen, da wuchsen nur
die blauen Kornblumen und die bunten Wicken, da konnte ich mich nach
Herzenslust auf die Erde werfen und böse sein. Denn das war ich. Ich
wollte Karl keine Tasche sticken; ich wollte nicht artig zu meinem Vater sein;
ich wollte überhaupt nichts, gar nichts, bloß in der Sonne liegen
und sehr weinen.
Die Sonne aber schien recht heiß, und ich muss wohl bald eingeschlafen
sein. Als ich aufwachte, stand ein schöner schlanker Junge vor mir; der
hatte einen Büschel Nussblätter in der Hand und hielt sie zwischen
mich und die Sonne. Ich sprang auf und machte große Augen. "Wer bist
du? Wo kommst du her?" Er guckte mich freundlich an: "Ich bin
Sonnenkind, ich weiß, dass du niemand zum Spielen hast; darum bin ich
gekommen, ich will heute mit dir spielen. Pass mal auf!" Und er bewegte
die Nussblätter, als ob er in den Himmel winke. Da kamen von allen Seiten
große Schmetterlinge angeflogen, blaue, gelbe und rote und setzten sich
auf die Blutbuche. Sonnenkind sang:
Sonnenvögelchen tanzen den Reigen
über den Zweigen
über dem Korn.
Da flatterten die Schmetterlinge in die Luft, ordneten sich in Reihen, je nach
ihrer Farbe, flogen übereinander, umeinander, durch einander, je nachdem
So9nnenkind die Nussblätter bewegte, bildeten Kreise und Sterne, klappten
im Takt die Flügel auf und zu, und lösten sich zuletzt in einen
großen flimmernden Kreise auf, der uns umtanzte.
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