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Der Rosenelf
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 1 ( von 3 )
Mitten in einem Garten wuchs ein Rosenstock, der war ganz voller Rosen, und in
einer derselben, der schönsten von allen, wohnte ein Elf; er war so winzig
klein, dass kein menschliches Auge ihn erblicken konnte; hinter jedem Blatte in
der Rose hatte er eine Schlafkammer; er war so wohlgebildet und schön wie
nur ein Kind sein konnte, und hatte Flügel von den Schultern bis gerade
hinunter zu den Füßen. O, welcher Duft war in seinem Zimmer, und wie
klar uns schön waren die Wände! Es waren ja die blassroten
Rosenblätter. Den ganzen Tag erfreute er sich im warmen Sonnenschein, flog
von Blume zu Blume , tanzte auf den Flügeln des fliegenden Schmetterlings
und maß, wie viele Schritte er zu gehen hatte, um über alle
Landstraßen und Steige zugelangen, welche auf einem einzigen Lindenblatte
sind. Das war, was wir die Adern im Blatte nennen, die er für
Landstraßen und Steige nahm, ja das waren große Wege für ihn!
Ehe er damit fertig wurde, ging die Sonne unter, er hatte auch spät damit
angefangen.
Es wurde kalt, der Tau fiel und der Wind wehte; nun war es das Beste, nach
Hause zu kommen, er tummelte sich, so sehr er konnte, aber die Rose hatte sich
geschlossen, er konnte nicht hineingelangen - keine einzige Rose stand
geöffnet. Der arme kleine Elf erschrak sehr. Er war früher nie Nachts
weggewesen, hatte immer süß hinter den warmen Rosenblättern
geschlummert. O, das wird sicher sein Tod werden!
Am andern Ende des Gartens, wusste er, befand sich eine Laube mit schönem
Jelängerjelieber, die Blumen sahen wie große bemalte Hörner
aus; in eine derselben wollte er hinabsteigen und bis morgen schlafen.
Er flog dahin. Was sah er! Es waren zwei Menschen darin, ein junger
hübscher Mann und ein schönes Mädchen; sie saßen
nebeneinander und wünschten, dass sie sich nicht zu trennen brauchten; sie
waren einander so gut, weit mehr noch, als das beste Kind seiner Mutter und
seinem Vater sein kann.
"Doch müssen wir uns trennen!" sagte der junge Mann. "Dein
Bruder mag uns nicht leiden, deshalb sendet er mich mit einem Auftrage soweit
über Berge und Seen fort! Lebe wohl, meine süße Braut, denn das
bist du mir doch!"
Dann küssten sie sich, und das junge Mädchen weinte und gab ihm eine
Rose. Aber bevor sie ihm dieselbe reichte, drückte sie einen Kuss darauf,
so fest und innig, dass die Blume sich öffnete. Da flog der kleine Elf in
diese hinein und lehnte sein Haupt gegen die feinen duftenden Wände, hier
konnte er gut hören, dass Lebewohl gesagt wurde. Und er fühlte, dass
die Rose ihren Platz an des jungen Mannes Brust erhielt. O wie schlug doch das
Herz darinnen! Der kleine Elf konnte gar nicht einschlafen, so pochte es.
Doch nicht lange lag die Rose auf der Brust. Der Mann nahm sie hervor, und
während er einsam in dem dunklen Walde ging, küsste er die Blume, so
oft und stark, dass der kleine Elf fast erdrückt wurde; er konnte durch
das Blatt fühlen, wie die Lippen des Mannes brannten, und die Rose selbst
hatte sich, wie bei der stärksten Mittagssonne, geöffnet. Da kam ein
anderer Mann, finster und böse; es war des hübschen Mädchens
schlechter Bruder. Ein scharfes und großes Messer zog er hervor, und
während jener die Rose küsste, stach der schlechte Mann ihn tot,
schnitt seinen Kopf ab und begrub ihn mit dem Körper in der weichen Erde
unter dem Lindenbaume.
"Nun ist er vergessen und fort", dachte der schlechte Bruder;
"er kommt nie mehr zurück. Eine lange Reise sollte er machen,
über Berge und Seen, da kann man leicht das Leben verlieren, und das hat
er verloren. Er kommt nicht mehr zurück, und mich darf meine Schwester
nicht nach ihm fragen."
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