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Das
Gänseblümchen
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 1 ( von 3 )
Nun höre einmal!
Draußen auf dem Lande, dicht am Wege lag ein Landhaus, du hast es gewiss
selbst einmal gesehen. Vor demselben ist ein kleiner Garten mit Blumen und
einem Zaun, welcher angestrichen ist; dicht dabei am Graben, mitten in dem
schönsten grünen Grase, wuchs eine kleine Gänseblume; die Sonne
beschien sie ebenso warm und schön, als die großen schönen
Prachtblumen drinnen im Garten, und deshalb wuchs sie von Stunde zu Stunde.
Eines Morgens stand sie mit ihren kleinen, blendend weißen Blättern,
die wie Strahlen um die kleine gelbe Sonne in der Mitte ringsumher sitzen, ganz
entfaltet da. Sie dachte gar nicht daran, dass kein Mensch sie dort im Grase
sehe und dass sie eine arme, verachtete Blume sei; nein, sie war vergnügt,
sie wendete sich der warmen Sonne gerade entgegen, sah zu ihr auf und horchte
auf die Lerche, die in der Luft sang. Das kleine Gänseblümchen war so
glücklich, als ob es ein großer Festtag gewesen wäre, und es
war doch ein Montag. Alle Kinder waren in der Schule. Während sie auf
ihren Bänken saßen und etwas lernten, saß sie auf ihrem
kleinen grüne Stängel und lernte auch von der warmen Sonne und Allem
ringsumher, wie gut Gott ist, und es schien ihr recht, dass die kleine Lerche
Alles, was sie in der Stille fühlte, so deutlich und schön sang; und
die Gänseblume blickte mit einer Art Ehrfurcht zu dem glücklichen
Vogel, der singen und fliegen konnte, empor, war aber gar nicht betrübt,
weil sie es selbst nicht konnte. "Ich sehe und höre ja!" dachte
sie; "die Sonne bescheint mich und der Wind küsst mich! O wie bin ich
doch begabt worden!" Im Garten standen viele steife, vornehme Blumen; je
weniger Duft sie hatten, um so mehr prunkten sie. Die Sonnenblume blies sich
auf, um größer als eine Rose zu sein, aber die Größe ist
es nicht, die es macht! Die Tulpen hatten die allerschönsten Farben, das
wussten sie wohl und hielten sich so gerade, damit man sie besser sehen
möchte. Sie beachteten die kleine Gänseblume da draußen gar
nicht, aber sie sah desto mehr nach ihnen und dachte: "Wie sind sie reich
und schön! Ja, zu ihnen fliegt sicher der prächtige Vogel hernieder
und besucht sie! Gott sei Dank, dass ich so nahe dabei stehe, so kann ich doch
den Staat zu sehen bekommen!" Und gerade, wie sie das dachte:
"Quirrvit!", da kam die Lerche geflogen, aber nicht zu den Tulpen
herunter, nein, nieder ins Gras zu der armen Gänseblume; die erschrak so
sehr vor lauter Freude, dass sie gar nicht wusste, was sie denken sollte.
Der kleine Vogel tanzte rings um sie her und sang: "Wie ist doch das Gras
so weich! Welch liebliche kleine Blume mit Gold im Herzen und Silber auf dem
Kleide!" Der gelbe Punkt in der Gänseblume sah ja auch aus wie Gold
und die kleinen Blätter ringsherum erglänzten silberweiß.
Wie glücklich die kleine Gänseblume war, das kann Niemand begreifen!
Der Vogel küsste sie mit seinem Schnabel, sang ihr vor und flog dann
wieder in die blaue Luft hinauf. Es währte sicher eine ganze
Viertelstunde, bevor die Blume sich erholen konnte. Halb beschämt und doch
innerlich erfreut sah sie sich nach den andern Blumen im Garten; sie hatte ja
die Ehre und Glückseligkeit, die ihr widerfahren war, gesehen, sie mussten
ja begreifen, welche Freude das war; aber die Tulpen standen noch einmal so
steif wie früher, und dann waren sie spitz im Gesicht und rot, denn sie
hatten sich geärgert. Die Sonnenblumen waren ganz dickköpfig; es war
gut, dass sie nicht sprechen konnten, sonst hätte die Gänseblume eine
ordentliche Zurechtweisung bekommen. Die arme kleine Blume konnte wohl sehen,
dass sie nicht guter Laune waren, und das tat ihr herzlich weh. Zur selben Zeit
kam drinnen im Garten ein Mädchen mit einem großen, scharfen und
glänzenden Messer, sie ging gerade auf die Tulpen zu und schnitt eine nach
der andern ab.
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