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Das
Gänseblümchen
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 2 ( von 3 )
"Uh!" seufzte die kleine Gänseblume, "das war schrecklich,
nun ist es mit ihnen vorbei!" Dann ging das Mädchen mit den Tulpen
fort. Das Gänseblümchen war froh, dass es draußen im Grase
stand und eine kleine Blume war, es fühlte sich so dankbar, und als die
Sonne unterging, faltete es seine Blätter, schlief ein und träumte
die ganz Nacht von der Sonne und dem kleinen Vogel.
Am nächsten Morgen, als die Blume wieder glücklich alle ihre
weißen Blätter gerade wie kleine Arme gegen Luft und Licht
ausstreckte, erkannte es des Vogels Stimme, aber es war traurig, was er sang.
Ja, die arme Lerche hatte guten Grund dazu; sie war gefangen worden und
saß nun in einem Käfig dicht beim offenen Fenster. Sie besang das
freie und glückliche Umherfliegen, sang von dem jungen grünen Korn
auf dem Felde und von der herrlichen Reise, die sie auf ihren Flügeln hoch
in die Luft hinauf machen konnte. Der arme kleine Vogel war nicht bei guter
Laune, gefangen saß er da im Käfig.
Die kleine Gänseblume wünschte zu helfen. Aber wie sollte sie das
anfangen? Ja, es war schwer zu erdenken. Sie vergaß völlig, wie
schön Alles ringsumher stand, wie warm die Sonne schien und wie herrlich
weiß ihre Blätter aussahen; ach, sie konnte nur an den gefangenen
Vogel denken, für den sie durchaus nicht im Stande war, etwas zu tun.
Zu derselben Zeit kamen zwei kleine Knaben aus dem Garten, der eine von ihnen
hatte ein Messer in den Händen, groß und scharf wie das, welches das
Mädchen hatte, um die Tulpen damit abzuschneiden. Sie gingen gerade auf
die kleine Gänseblume zu, die gar nicht begreifen konnte, was sie wollten.
"Hier können wir ein herrliches Rasenstück für die Lerche
ausschneiden!" sagte der eine Knabe und begann nun um die Gänseblume
in einem Viereck tief hineinzuschneiden, so dass sie mitten in das
Rasenstück zu stehen kam.
"Reiße die Blume ab!" sagte der eine Knabe, und das
Gänseblümchen zitterte aus Angst; denn abgerissen zu werden, war ja
das Leben verlieren, und nun wollte es so gern leben, da es mit dem
Rasenstück zu der gefangenen Lerche in den Käfig sollte.
"Nein, lass sie sitzen!" sagte der andere Knabe; "sie putzt so
niedlich!" Und so blieb die kleine Gänseblume sitzen und kam mit in
den Käfig zur Lerche.
Aber der arme Vogel klagte laut über seine verlorene Freiheit und schlug
mit den Füßen gegen den Eisendraht im Käfig; die kleine
Gänseblume konnte nicht sprechen, kein tröstendes Wort sagen, so gern
sie es auch wollte. So verging der ganze Vormittag.
"Hier ist kein Wasser!" sagte die gefangene Lerche. "Sie sind
alle ausgegangen und haben vergessen, mit einen Tropfen zu trinken zu geben.
Mein Hals ist trocken und brennend! Es ist Feuer und Eis in mir und die Luft
ist so schwer! Ach, ich muss sterben, scheiden vom warmen Sonnenschein, vom
frischen Grün, von all der Herrlichkeit, die Gott geschaffen!" Und
dann bohrte sie ihren Schnabel in das kühle Rasenstück, um sich
dadurch ein wenig zu erfrischen; da fielen ihre Augen auf das
Gänseblümchen, und der Vogel nickte ihm zu, küsste es mit dem
Schnabel und sagte: "Du musst hier drinnen auch vertrocknen, du arme
kleine Blume! Dich und das kleine Fleckchen grünen Grases hat man mir
für die ganze Welt gegeben, die ich hier draußen hatte! Jeder kleine
Grashalm soll mir ein grüner Baum, jedes deiner weißen Blätter
eine duftende Blume sein! Ach, ihr erzählt mir nur, wie viel ich verloren
habe!" "Wer ihn doch trösten könnte!" dachte die
Gänseblume, aber sie konnte kein Blatt bewegen; doch der duft, der den
seinen Blättern entströmte, war weit stärker, als man ihn sonst
bei dieser Blume findet; das bemerkte der Vogel auch, und obgleich er vor Duft
fast verschmachtete und in seinem Schmerz die grünen Grashalme abriss,
berührte er doch nicht die Blume.
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