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Die
Leichenfresserin
Märchen von Johann Wilhelm Wolf, Seite 1 ( von 2 )
Der König von England hatte eine wunderschöne Tochter, die sprach zu
ihm: "Vater, wenn ich zwanzig Jahr alt bin, so sterbe ich, dann will ich
hinausgetragen sein in das alte Kapellchen vor der Stadt; da sollt ihr mich n
meinem Sarge hineinstellen und jede Nacht eine Schildwache dabei." Wie sie
gesagt, so geschah's: sie starb auf ihren zwanzigsten Geburtstag und der
König ließ ihren Willen tun. Sie ward in ihrem Sarge hinausgetragen
in das Kapellchen und vor den Altar gestellt, und als es Nacht wurde, musste
eine Schildwache dabei bleiben. Als aber des andern Morgens der Soldat
abgelöst werden sollte, lag er da und war ihm das Genick gebrochen. Ebenso
ging es mit der zweiten Schildwache und mit der dritten, und zum vierten Male
wollte es Niemand probieren, ob der König gleich eine große
Belohnung darauf setzte. Damals war aber gerade am Hofe von England ein fremder
Schneidergeselle. Er war auf seiner Wanderschaft dahin gekommen, und weil er so
gut arbeitete, ließ ihn der König nicht mehr fort, ob er gleich gar
dringend darum bat, weil er das Heimweh hatte. Der machte nun einen Anschlag,
wie er sich auf gute Art aus dem Staube machen möchte und als er glaubte
es würde so gelingen, trat er vor den König und sprach: "Herr
König, wollt ihr mir diesen Abend einen Säbel, eine Patronentasche
und ein Gewehr geben lassen, so will ich hinausgehen und bei der Prinzessin
Schildwache stehen." Darob lobte ihn der König sehr und ließ
ihm das Verlangte geben. Der Schneider ging damit ganz keck über die
Straße und zum Tor hinaus; als er aber draus war, dachte er mit keinem
Gedanken mehr an die Prinzessin, sondern machte rechts um und lief fort, was er
laufen konnte. Da hörte er sich auf einmal bei Namen rufen, er hielt an
und sah sich um, da stand ein klein alt Männlein vor ihm und sprach, er
solle doch kein Narr sein und fortlaufen, er gehe ja seinem eignen Glücke
durch. wie er das meine? fragte der Schneider. "Ei," sagte das
Männchen, "wenn du gescheit bist, so gehst du zurück und bleibst
heute Nacht in dem Kapellchen, ich will dir sagen, wie du es anfangen musst,
dass du die Prinzessin erlösest und König wirst." Der Schneider
wollte Anfangs Nichts davon wissen, doch endlich ließ er sich einreden
und fragte, wie er sich dazu anstellen müsse, dass ihm nicht auch das
Genick gebrochen würde? Da sagte das Männchen, er solle nur in die
Beichtkammer der Kapelle gehen, darin läge eine Reihe von Leichen und
mitten darin sei noch ein Platz frei, da solle er sich hineinlegen und sich
durch Nichts irre machen lassen, was auch geschehen möchte. Dem Schneider
steckte nun das Königwerden so im Kopf, dass er richtig umkehrte in die
Kapelle und sich mitten zwischen die Toten in der Leichenkammer hinlegte. Um
elf Uhr sprang der Sarg auf, die Königstochter von England stieg heraus,
kam in die Beichtkammer und fing an, die Leichen zu zerreisen und zu fressen.
Der Schneider war mehr tot als lebendig, indem er ihr so zusah, wie sie dem
einen Toten ein Bein abfraß und dem andern einen Arm und die Stücke
in der Kammer herumwarf. Als es aber zwölf Uhr schlug, stieg die
Prinzessin wieder in den Sarg, der Deckel klappte über ihr zu und Alles
war vorbei. Der Schneider stieg jetzt auf und stellte sich auf seinen Posten
neben den Sarg. Des andern Morgens in aller Frühe kam der König mit
dem ganzen Hofstaat herausgefahren, freute sich gar sehr, dass der Schneider
noch lebte und nahm ihn in seiner eignen Kutsche mit nach Haus. In die Kapelle
aber, ließ er das allerbeste Essen aus der Schlossküche und ein
ganzes Fass voll Wein bringen, damit der Schneider in der folgenden Nacht sich
daran stärken könne. Dem wurde es aber doch ganz bang zu Mute, als es
dunkel wurde und er wieder hinaus musste. Wenn du diesmal hingehst, frisst sie
dich gewiss! dachte er, als er vor dem Tor draus war und machte rechtsrum und
lief fort, diesmal aber einen ganz andern Weg, damit ihm das Männchen
nicht begegnen sollte. Wer ihm aber doch begegnete, das war das Männchen.
"He! guter Freund!" rief es ihm auf einmal zu, "wo hinaus so
eilig?"
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