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Die Leichenfresserin

Märchen von Johann Wilhelm Wolf, Seite 2 ( von 2 )

Da sprach der Schneider, diesmal gehe er nicht mehr hin, und wenn er hundertmal König werden und hundert Prinzessinnen heiraten sollte. Das Männchen sprach ihm aber gar freundlich zu, er habe jetzt die Hälfte schon vollbracht und brauche nur noch die eine Stunde auszuhalten, er wolle ihm ja sagen, wie er sich anstellen müsse, damit ihm an Leib und Leben Nichts geschehen könne. Der Schneider dachte, es wäre doch immerhin schön, wenn er schon den andern Tag Hochzeit halten könnte und ließ sich zum zweiten Male bereden. Das Männchen sprach jetzt, er solle getrost wieder hingehen und sich zwischen die Toten legen, wenn aber die Prinzessin wieder da sei und so recht gierig an einer Leiche fresse, so solle er hinter ihr vorüberschleichen, bis vor den Altar und statt ihrer in den Sarg steigen.
Und so tat er's. Um elf Uhr kam die Königstochter wieder und machte sich über die Leichen her wie ein Wolf, riss eine nach der andern von einander, warf die Gebeine in der ganzen Kirche herum und schrie dabei in einem fort: "Ich krieg dich doch, du magst stecken, wo du willst."
Endlich aber blieb sie bei einer Leiche sitzen und fraß und fraß, als wenn es der beste Braten gewesen wäre. Da stand der Schneider leise auf, schlich an ihr vorbei, bis vor den Altar und legte sich in den Sarg. Mit dem Schlag Zwölf kam die Prinzessin und wollte hineinsteigen. Als sie aber den Schneider sah, fing sie an ser zu klagen und zu bitten, es sei ja ihr Bett, er solle doch herausgehen und sie hineinlassen, dass sie schlafen könne. Als das nichts half, fing sie an aufs Fürchterliche zu toben, als wenn sie ihn auf der Stelle umbringen wollte; er blieb aber ruhig liegen und sie konnte ihn nicht anrühren. Mit dem Schlage Eins stürzte die Prinzessin zusammen und blieb auf dem Boden liegen und schlief. Der Schneider stand auf und sprach: "Du hast gut geschlafen, denn du hast dich sattgefressen, ich habe aber seit gestern Mittag noch Nichts in den Leib bekommen!" Und somit machte er sich über das Essen und den Wein her und ruhte nicht eher, als bis er auch auf den Boden fiel und schlief wie ein Sack. Des anderen Morgens kam der König mit dem Hofstaat herein, da lagen sie alle zwei auf der Erde, das Eine da und das Andere dort und schliefen als sollten sie nicht wieder aufstehen.
Als nun Hochzeit gehalten war, und der Schneider zum ersten Mal bei der Prinzessin lag, da fürchtete er sich so vor ihr, dass er aus dem Bett springen wollte, wenn sie nur einen Finger bewegte. "Ei du Narr," sprach sie, "bleib nur, ich tue dir ja Nichts, ich hab auch die Leichen nicht gefressen, es musste dir nur so vorkommen." Da fürchtete sich der Schneider nicht länger und gab ihr einen herzhaften Kuss. Sie lebten lang und glücklich beisammen und bekamen viele schöne Kinder.

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