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Marienkind
Märchen der Gebrüder Grimm, Seite 2 ( von 3 )
Es sprang auf und wollte fortlaufen, aber wo es sich hinwendete, immer ward es
von dichtem Gebüsch zurück gehalten, das es nicht durchbrechen
konnte. In der Einöde, in welche es eingeschossen war, stand ein alter
hohler Baum, der musste ihm als Wohnung dienen. Darin schlief es Nachts, und
wenn es stürmte und regnete, fand es darin Schutz. Wurzeln und Waldbeeren
waren seine einzige Nahrung, die suchte es sich, so weit es kommen konnte. Im
Herbst sammelte es die Blätter des Baumes und trug sie in die Höhle,
und wenn es dann im Winter schneite und fror, bedeckte es sich damit. Auch
verdarben seine Kleider und fielen vom Leib herab. Sobald dann die Sonne wieder
warm schien, ging es heraus und setzte sich vor den Baum, und seine langen
Haare bedeckten es von allen Seiten wie ein Mantel. So saß es lange Zeit
und fühlte den Jammer und das Elende der Welt.
Einmal, als die Bäume wieder in frischem Grün standen, jagte der
König des Landes in dem Wald und verfolgte Wild, und als es in das
Gebüsch geflohen war, das den Waldplatz einschloss, stieg er ab, riss das
Gestrüppe aus einander und hieb sich mit seinem Schwert einen Weg. Als er
endlich hindurch gedrungen war, sah er unter dem Baum ein wunderschönes
Mädchen sitzen, das von seinem goldenen Haar bis zu den Fußzehen
bedeckt war. Er stand still und betrachtete es voll Erstaunen, dann redete er
es an und sprach 'wie bist du in die Einöde gekommen?' Es schwieg aber
still, denn es konnte seinen Mund nicht auftun. Der König sprach weiter
'willst du mit mir auf mein Schloss gehen?' Da nickte es bloß ein wenig
mit dem Kopf. Der König nahm es auf seinen Arm, trug es auf sein Pferd,
und führte es heim, wo er ihm schöne Kleider anziehen ließ, und
ihm alles im Überfuß gab. Und ob es gleich nicht sprechen konnte, so
war es doch so schön und freundlich, dass er es von Herzen lieb gewann,
und es dauerte nicht lange, so vermählte er sich mit ihm.
Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt.
Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bette lag, erschien ihr die
Jungfrau Maria und sprach 'willst du die Wahrheit sagen und gestehen dass du
die verbotene Tür auf geschlossen hast, so will ich deinen Mund
öffnen und dir die Sprache wieder geben: verharrst du aber in der
Sünde, und leugnest hartnäckig, so nehm ich dein neugebornes Kind mit
mir.' Das war der König verliehen zu antworten, sie blieb aber verstockt
und sprach 'nein, ich habe die verbotene Tür nicht aufgemacht', und die
Jungfrau Maria nahm das neugeborene Kind ihr aus dem Arme und verschwand damit.
Am anderen Morgen, als das Kind nicht zu finden war, ging ein Gemurmel unter
den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte
ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles und konnte nichts dagegen
sagen, der König aber wollte es nicht glauben weil er sie so lieb hatte,
Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. In der Nacht trat
auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach 'willst du gestehen
dass du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir dein Kind
wiedergeben und deine Zunge lösen: verharrst du aber in der Sünde und
leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborene mit mir.' Da sprach die
Königin wiederum 'nein, ich habe die verbotene Tür nicht
geöffnet,' und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit
sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten
die Leute ganz laut die Königin hätte es verschlungen, und des
Königs Räte verlangten dass sie sollte gerichtet werden. Der
König aber hatte sie so lieb dass er es nicht glauben wollte, und befahl
den Räten bei Leibes- und Lebensstrafe nichts mehr darüber zu
sprechen.
Im nächsten Jahr gebar die Königin ein schönes Töchterlein,
da erschien ihr zum drittenmal Nachts die Jungfrau Maria und sprach 'folge
mir.' Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel, und zeigte
ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit
der Weltkugel. Als sich die Königin darüber freuete, sprach die
Jungfrau Maria 'ist dein Herz noch nicht erweicht? wenn du eingestehst dass du
die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden
Söhne zurück geben.' Aber die Königin antwortete zum drittenmal
'nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet.' Da ließ sie
die Jungfrau wieder zur Erde hinabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind.
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