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Der
Schäfer und die Schlange
Märchen von Ludwig Bechstein, Seite 1 ( von 2 )
Es war einmal ein armer Schäferknabe in einem friedlichen, anmutig
gelegenen Dörfchen; bei dem Dörfchen war ein Tal und ein gar trautes
Örtlein, an welches der Schäferknabe immer seine Herde hintrieb, und
es schien, als habe der Schäfer diesen stillen Ort sich zum
Lieblingsplätzchen erwählt. Er aß nicht eher sein Mittagsbrot
und suchte nicht eher die kühle Ruhe, bis er an das traute Plätzchen
kam. Dorthin zog ihn immer eine unerklärliche Sehnsucht.
Das Plätzchen selbst war ganz einfach: ein roher Stein lag nur da, unter
welchem eine Quelle murmelte und ein wilder Birnbaum stand dabei, der den Stein
überschattete mit seinen dichtbelaubten Zweigen. Doch der Knabe
fühlte sich immer so froh, wenn er an diesem Stein aß, aus der
Quelle trank, und wenn der Stein sein Ruhekissen war, und es war ihm dann, als
höre er ein geheimnisvolles Singen und Seufzen unter dem Stein; dann
lauschte er, entschlummerte dann und träumte. Immer war ihm als umschwebe
seine Seele ein geheimes, überirdisches Glück. War er fortgetrieben
mit der Herde, und war er abends heimgetrieben, so bemächtigte sich seiner
wieder diese unerklärliche Sehnsucht; er mochte unter der Schar der
munteren Dorfburschen und Mädchen nicht lustig singend und schäkernd
mit umherziehen, wenn es Feierabend war, vielmehr ging er still und allein, und
wurde sogar traurig. Doch, brach der neue schöne Morgen wieder an, und er
zog mit seiner Lämmerherde wieder hinaus auf Flur und Reine, so wurde sein
Sinn heiter und immer heiterer, bis er den lieben Stein, den Schatten des
trauten Birnbaumes erreicht hatte. Oft auch, wenn er dort rastete und auf
seiner Flöte blies, begab es sich, dass eine silberweiße Schlange
unter dem Stein hervorkam, die sich erst vertraulich an seine Füße
schmiegte, sich dann empor wand und den Schäfer anblickte, bis zwei
große Tränen aus ihren Augen quollen, und sie dann leise wieder
unter den Stein schlüpfte. Da wurde dem Schäfer allemal so
eigentümlich, so wunderbar zu Mute. Sein Herz war froh und doch
unaussprechlich wehmütig. Zuletzt ging der Schäfer gar nicht mehr
unter die muntere Zahl der Burschen und Mädchen, das helle lustige
Getöse war ihm ganz zuwider, dagegen tat ihm die einsame Stille so wohl
und wurde ihm immer lieber.
An einem schönen Frühlingssonntag, dem Sonntage Trinitatis, den die
Landleute den "goldenen Sonntag" nennen, und besonders hoch halten
und festlich feiern, wo unter der Dorflinde ein lustiger Tanz gehalten werden
sollte, lenkte der stille Schäferknabe, von jener unaussprechlichen
Sehnsucht getrieben, in der Mittagsstunde sein Schritte dem einsamen Tale zu,
wo der Stein und der Birnbaum war. Er grüßte heiter das traute
Plätzchen, setzte sich stilldenkend nieder und lauschte dem Flüstern
der Baumblätter und dem geheimnisvollen Geplauder unter dem Steine. Da
wurde es mit einemmal so licht vor seinen Blicken, ein Bangen durchzitterte
sein Herz, er blickte auf, und sah eine holde Gestalt in weißem Kleide,
gleich einem Engel, vor sich stehen, mit sanften Blick und gefalteten
Händen; und trunkenen Sinnes hörte der Schäfer eine
süße Stimme ihm zuflüstern: "O Jüngling, sei nicht
bange, o höre das Flehen eines unglücklichen Mädchens, und
stoße mich nicht von Dir, und entfliehe nicht vor meinem Jammer. Ich bin
eine edle Prinzessin, bin unermesslich reich an Perlen- und Goldschätzen;
aber ich schmachte schon viele Jahrhunderte verzaubert und verbannt hier unter
diesem Stein, und muss in einem Schlangenleib umherschleichen. So erschaute ich
Dich hier oft, und gewann die Hoffnung, Du könntest mich erlösen, Du
seiest noch rein im Herzen wie ein Kind. Und diese jetzige Stunde, als am
goldenen Sonntag um die Mittagsstunde, diese allein im ganzen Jahr ist mir
vergönnt in meiner wahren Gestalt auf der Erde zu wandeln; und fände
ich da einen Jüngling reinen Herzens, so dürfe ich ihn um meine
Erlösung ansprechen.
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