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Der goldne
Rehbock
Märchen von Ludwig Bechstein, Seite 1 ( von 2 )
Es waren einmal zwei arme Geschwister, ein Knabe und ein Mädchen, das
Mädchen hieß Margarethe, der Knabe hieß Hans. Ihre Eltern
waren gestorben, hatten ihnen auch kein Eigentum hinterlassen, daher sie
ausgehen mussten, um durch Betteln sich fortzubringen. Zur Arbeit waren beide
noch zu schwach und klein; denn Hänschen zählte erst zwölf
Jahre, und Gretchen war noch jünger. Des Abends gingen sie vor's erste
beste Haus, klopften an und baten um Nachtquartier, und vielmal waren sie schon
von guten, mildtätigen Menschen aufgenommen, gespeiset und getränket
worden, auch hatte mancher und manche Barmherzige ihnen ein Kleidungsstück
zugeworfen.
So kamen sie einmal des Abends vor ein Häuschen, welches einzeln stand; da
klopften sie an's Fenster, und als gleich darauf eine alte Frau heraussah,
fragte sie diese, ob sie nicht über Nacht bleiben durften? Die Antwort
war: "Meinetwegen, kommt nur herein!" Aber wie sie eintraten, sprach
die Frau: "Ich will euch wohl über Nacht behalten, aber wenn es mein
Mann gewahre wird, so seid ihr verloren; denn er isst gern einen jungen
Menschenbraten, daher er alle Kinder schlachtet, die ihm vor die Hand
kommen!" Da wurde den Kindern sehr angst; doch konnten sie nunmehr nicht
weiter, es war schon ganz dunkle Nacht geworden. So ließen sie sich
gutwillig von der Frau in ein Fass verstecken, und verhielten sich ruhig.
Einschlafen konnten sie aber lange nicht, zumal sie nach einer Stunde die
schweren Tritte eines Mannes vernahmen, der wahrscheinlich der Menschenfresser
war Des wurden sie bald gewiss, denn jetzt fing er an mit brüllender
Stimme auf seine Frau zu zanken, dass sie keinen Menschenbraten für ihn
hergerichtet. Am Morgen verließ er das Haus wieder, und tappte so laut,
dass die Kinder, die endlich doch eingeschlummert waren, darüber
erwachten.
Als sie von der Frau etwas zum frühstücken bekommen hatten, sagte
diese: "Ihr Kinder müsst nun auch etwas tun, da habt ihr zwei Besen,
geht oben hinauf und kehrt mir meine Stube aus, deren sind zwölf, aber ihr
kehret davon nur elf, die zwölfte dürft ihr um's Himmelswillen nicht
aufmachen. Ich will derzeit einen Ausgang tun. Seid fleißig, dass ihr
fertig seid, wenn ich wieder komme." Die Kinder kehrten sehr emsig, und
gar bald waren sie mit den elf Stuben fertig. Nun mochte Gretchen doch gar zu
gerne wissen, was in der zwölften Stube wäre, dass sie nicht sehen
sollten, weil ihnen verboten war, die Stube zu öffnen. Sie guckte ein
wenig durchs Schlüsselloch, und sah da einen herrlichen kleinen goldenen
Wagen, mit einem goldenen Rehbock bespannt. Geschwind rief sie Hänschen
herbei, dass er auch hinein gucken sollte. Und als sie sich erst tüchtig
umgesehen, ob die Frau nicht heimkehre, und da von dieser noch gar nichts zu
sehen war, schlossen sie schnell die Türe auf, zogen den Wagen samt
Rehbock heraus, setzten drunten auf der Straße sich hinein in den Wagen
und fuhren auf und davon. Aber nicht lange, so sahen sie von weitem die alte
Frau und auch den Menschenfresser sich entgegen kommen, gerade des Weg's, den
sie mit dem geraubten Wagen eingeschlagen hatten. Hänslein sprach:
"Ach, Schwester, was machen wir? Wenn uns die beiden Alten entdecken, sind
wir verloren." "Still!" sprach Gretchen, "ich weiß
ein kräftiges Zaubersprüchlein, welches ich noch von unsrer
Großmutter gelernt habe:
Rosenrote Rose sticht;
Siehst Du mich, so sieh mich nicht!
und alsbald waren sie verwandelt in einen Rosenstrauch. Gretchen wurde zur
Rose, Hänslein zu Dornen, der Rehbock zum Stiele, der Wagen zu
Blättern.
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