|
Die Stopfnadel
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 2 ( von 2 )
"Glänzten sie denn?" fragte die Glasscherbe.
"Glänzen!" sagte die Stopfnadel, "nein, aber hochmütig
waren sie! Es waren fünf Brüder, alle geborne "Finger", sie
hielten sich stolz neben einander, obgleich sie von verschiedener Länge
waren; der äußerste, der Däumling, war kurz und dick, er ging
außen vor dem Gliede her, und dann hatte er nur ein Gelenk im
Rücken, er konnte nur eine Verbeugung machen, aber er sagte, dass wenn er
von einem Menschen abgehauen würde, dieser dann zum Kriegsdienste
untauglich sei. Der Topflecker kam in Süßes und Saures, zeigte nach
Sonne und Mond, und er verursachte den Druck, wenn sie schrieben; der Langemann
sah den andern über den Kopf; der Goldrand ging mit einem Goldreif um den
Leib, und der kleine Peter Spielmann tat gar nichts, und darauf war er stolz.
Prahlerei war es und Prahlerei blieb es! und deshalb ging ich in die
Gosse."
"Nun sitzen wir hier und glänzen!" sagte die Glasscherbe.
Gleichzeitig kam mehr Wasser in den Rinnstein, es strömte über die
Grenzen und riss die Glasscherbe mit sich fort.
"Sieh, nun wurde diese befördert!" sagte die Stopfnadel.
"Ich bleibe sitzen, ich bin zu fein, aber das ist mein Stolz, und der ist
achtungswert!" So saß sie stolz da und hatte viele Gedanken.
"Ich möchte fast glauben, dass ich von einem Sonnenstrahl geboren
bin, so fein bin ich! Kommt es mir doch auch vor, als ob die Sonne mich immer
unter dem Wasser aufsuche. Ach, ich bin so fein, dass meine Mutter mich nicht
finden kann. Hätte ich mein altes Auge, welches abbrach, so glaube ich,
ich könnte weinen; - aber ich würde es nicht tun - es ist nicht fein,
zu weinen!" Eines Tages kamen einige Straßenjungen und wühlten
im Rinnstein, wo sie alte Nägel, Pfennige und dergleichen fanden. Das war
kein schönes Geschäft und doch machte es ihnen Vergnügen.
"Au!" sagte der eine, er stach sich an der Stopfnadel. "Das ist
auch ein Kerl!"
"Ich bin keine Kerl, ich bin ein Fräulein!" sagte die
Stopfnadel, aber Niemand hörte es; der Siegellack war von derselben
abgegangen und sie war schwarz und dünn geworden, und darum glaubte sie,
dass sie noch feiner sei, als sie früher war.
"Da kommt eine Eierschale angesegelt!" sagte die Jungen und steckten
die Stopfnadel in die Schale.
"Weiße Wände und selbst schwarz", sagte die Stopfnadel,
"das kleidet gut! Nun kann man mich doch sehen! - Wenn ich nur nicht
seekrank werde!" - Aber sie wurde nicht seekrank.
"Es ist gut gegen die Seekrankheit, einen Stahlmagen zu haben und immer
daran zu denken, dass man etwas mehr als ein Mensch ist! Nun ist es bei mir
vorbei! Je feiner man ist, desto mehr kann an aushalten."
"Krach!" sagte die Eierschale, es ging ein Lastwagen über sie
hin. "Au, wie das drückt!" sagte die Stopfnadel. "Jetzt
werde ich doch seekrank!" Aber sie wurde es nicht, obgleich ein Lastwagen
über sie wegfuhr, sie lag der Länge nach - und da mag sie liegen
bleiben!
|
|