|
Der Engel
Märchen von Hans Christian Andersen, Seite 1 ( von 2 )
Jedes Mal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde
hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breite die großen
weißen Flügel aus und pflückt eine ganze Hand voll Blumen,
welche er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der
Erde blühen. Der liebe Gott drückt alle Blumen an sein Herz, aber der
Blume, welche ihm die liebste ist, gibt er einen Kuss, und dann bekommt sie
Stimme und kann in der großen Glückseligkeit mitsingen!
Sieh, Alles dieses erzählte ein Engel Gottes, indem er ein totes Kind zum
Himmel forttrug, und das Kind hörte wie im Träume; sie flogen
über die Stätten in der Heimat, wo der Kleine gespielt hatte, und
kamen durch Gärten mit herrlichen Blumen.
"Welche wollen wir nun mitnehmen und in den Himmel pflanzen?" fragte
der Engel.
Da stand ein schlanker, herrlicher Rosenstock, aber eine böse Hand hatte
den Stamm abgebrochen, so dass alle Zweige, voll von großen,
halbaufgebrochenen Knospen, rundherum vertrocknet hingen. "Der arme
Rosenstock!" sagte das Kind. "Nimm ihn, damit er oben bei Gott zum
Blühen kommen kann!"
Und der Engel nahm ihn, küsste das Kind dafür, und der Kleine
öffnete seine Augen zur Hälfte. Sie pflückten von den reichen
Prachtblumen, nahmen aber auch die verachteten Butterblumen und das wilde
Stiefmütterchen.
"Nun haben wir Blumen!" sagte das Kind und der Engel nickte, aber er
flog noch nicht zu Gott empor. Es war Nacht und ganz still, sie blieben in der
großen Stadt und schwebten in einer der schmalen Gassen umher, wo Haufen
Stroh und Asche lagen; es war Umzug gewesen. Da lagen Scherben von Tellern,
Gipsstücke, Lumpen und alte Hutköpfe, was Alles nicht gut aussah. Der
Engel zeigte in allen diesen Wirrwarr hinunter auf einige Scherben eines
Blumentopfes und auf einen Klumpen Erde, der da herausgefallen war und von den
Wurzeln einer großen vertrockneten Feldblume, welche nichts taugte und
die man deshalb auf die Gasse geworfen hatte, zusammengehalten wurde.
"Diese nehmen wir mit!" sagte der Engel. "Ich werde dir
erzählen, während wir fliegen!"
Sie flogen und der Engel erzählte:
"Dort unten in der schmalen Gasse, in dem niedrigen Keller, wohnte ein
armer kranker Knabe. Von seiner Geburt an war er immer bettlägerig
gewesen; wenn es ihm am besten ging, konnte er auf Krücken die kleine
Stube ein paar Mal auf und nieder gehen, das war Alles. An einigen Tagen im
Sommer fielen die Sonnenstrahlen während einer halben Stunde bis in den
Keller hinab, und wenn der Knabe dasaß und sich von der warmen Sonne
bescheinen ließ und das rote Blut durch seine feinen Finger sah, die es
vor das Gesicht hielt, dann hieß es: "Heute ist er ausgewesen!"
Er kannte den Wald in seinem herrlichen Frühjahrsgrün nur dadurch,
dass ihm des Nachbars Sohn den ersten Buchenzweig brachte, den hielt er
über seinem Haupte und träumte dann unter Buchen zu sein, wo die
Sonne scheint und die Vögel singen. Am einem Frühlingstage brachte
ihm des Nachbars Knabe auch Feldblumen, und unter diesen war zufällig eine
mit der Wurzel, deshalb wurde sie in einen Blumentopf gepflanzt und am Bette
neben das Fenster gestellt. Die Blume war mit einer glücklichen Hand
gepflanzt, sie wuchs trieb neue Zweige und trug jedes Jahr ihre Blumen; sie
wurde des kranken Knabens herrlichster Blumengarten, sein kleiner Schatz hier
auf Erden; er begoss und pflegte sie, und sorgte dafür, dass sie jeden
Sonnenstrahl bis zum letzten, welcher durch das niedrige Fenster hinunterglitt,
erhielt; die Blume selbst verwuchs mit seinen Tränen, denn für ihn
blühte sie, verbreitete sie ihren Duft und erfreute das Auge; gegen sie
wendete er sich im Tode, da der Herr ihn rief.
|
|