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Der
fromme Sohn Harun Arraschids
Tausend und eine Nacht, Gustav Weil, Seite 1 ( von 3 )
Es wird auch erzählt: Harum Arraschid hatte einen Sohn, der, als er
sechzehn Jahre alt war, immer mit frommen Einsiedlern und Heiligen lebte, stets
auf den Gräbern herumwanderte und ausrief: "Ihr habt die Welt
besessen, was habt ihr nun davon in euerm Grabe; ich möchte wissen, was
ihr Alles in der Welt gesagt und was euch gesagt worden." Eines Tages, als
er ein wollenes Oberkleid um den Leib und ein wollenes Tuch um sein Haupt
hatte, begegnete ihm sein Vater mit den Vezieren und Großen des Reichs,
und es sagte Einer zum Andern: "Dieser Jüngling macht den
Fürsten der Gläubigen vor allen Königen zu Schande; wenn er ihn
doch nur zurechtwiese, vielleicht würde er seinen Lebenswandel
ändern." Harun Arraschid sagte ihm dann: "Mein Sohn, du machst
mich zu Schande durch deine Eigenheiten." Der Jüngling antwortete
nicht, sondern rief einem Vogel, der auf dem Dache des Schlosses stand, zu:
"O Vogel, bei Dem, der dich geschaffen, lasse dich auf meine Hand
nieder!" Sogleich flog der Vogel auf des Jünglings Hand. Dann sagte
er ihm: "Kehre wieder auf das Dach zurück!" Da flog der Vogel
wieder auf die Stelle, wo er hergekommen war. Dann rief er ihm zu: "Bei
deinem Schöpfer, lasse dich auf die Hand des Fürsten der
Gläubigen nieder! aber der Vogel weigerte sich. Da sagte der Jüngling
zu seinem Vater: "Du machst mich zu Schande unter den Heiligen durch deine
Liebe zur Welt, darum habe ich auch beschlossen, mich von dir zu trennen."
Hierauf ging der Jüngling fort und reiste nach Bassrah, wo er mit den
Maurern arbeitete und 1 1/6 Drachmen Taglohn empfing, von welchem er lebte. Abu
Amer aus Bassrah erzählt von ihm. Als in meinem Hause eine Mauer
einstürzte, ging ich auf den Platz, wo die Maurer standen, um einen
Arbeiter zu holen, der sie wieder aufbauen sollte. Da fiel mein Auge auf einen
hübschen Jüngling mit einem feinen Gesichte, ich ging auf ihn zu,
grüßte ihn und sagte ihm: "Mein Freund, willst du Arbeit, so
komme mit mir!" - "Recht gerne," antwortete der Jüngling,
"doch unter der Bedingung, dass du mir nur 1 1/6 Drachmen Taglohn gibst,
und so oft zum Gebete gerufen wird, mich mit der Gemeinde beten
lässt." Ich willigte ein, nahm ihn mit mir nach Hause und er
arbeitete, wie ich noch nie arbeiten gesehen. Als ich ihn an das Mittagessen
erinnerte, nahm er Nichts an, und ich merkte, das er fastete. Als dann das
Gebet ausgerufen ward, sagte er: "Erinnere dich unserer
Übereinkunft!" Ich sagte: "Gut." Da löste er seinen
Gürtel, wusch sich auf die fromme Weise, ging in die Moschee und betete
mit der Gemeinde. Dann kam er wieder und arbeitete mit dem größten
Eifer, bis das Nachmittagsgebet ausgerufen ward. Da erinnerte er mich wieder an
die Bedingung, ging in die Moschee und betete mit der Gemeinde, dann kehrte er
wieder zur Arbeit zurück. Ich sagte ihm. "Mein Freund, sonst arbeiten
die Maurer nur bis zum Nachmittagsgebete." Er sagte aber: "Gepriesen
sei Gott, ich pflege immer bis Nachts zu arbeiten." Als es Nacht war, gab
ich ihm zwei Drachmen. Da sagte er: "Was ist das?" Ich antwortete:
"Nur ein geringer Lohn für deine große Arbeit." Aber er
warf mir sie zu und sagte: "Ich nehme nicht mehr, als ich mir
vorbehalten," und trotz aller Mühe konnte ich ihn nicht dahin
bringen, mehr als 1 1/6 Drachmen zu nehmen.
Am folgenden Morgen ging ich wieder auf den Sammelplatz der Arbeiter; aber ich
fand ihn nicht, und als ich nach ihm fragte, sagte man mir, er komme nur jeden
Sonnabend. Ich ging Sonnabends wieder, um ihn aufzusuchen, und fragte ihn, ob
er in Gottes Namen wieder bei mir arbeiten wolle? Er sagte: "Recht gerne,
nach den dir wohlbekannten Bedingungen." Ich nahm ihn mit nach Hause und
führte ihn an die Arbeit. Da bemerkte ich, ohne von ihm gesehen zu werden,
wie er nur eine Hand voll Lehm auf die Mauer warf und plötzlich alle
Steine fest aufeinander saßen, und ich dachte: Solche Kraft haben nur die
Heiligen. Er arbeitete an diesem Tage noch mehr als früher, und des Abends
gab ich ihm seinen Lohn, mit dem er fortging.
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