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Rapunzel
Märchen der Gebrüder Grimm, Seite 2 ( von 2 )
Als er einmal so hinter einem Baum stand, sah er dass eine Zauberin heran kam
und hörte wie sie hinauf rief:
"Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter."
Da ließ Rapunzel die Haarflechte herab, und die Zauberin stieg zu ihr
hinauf. "Ist das die Leiter, auf welcher man hinauf kommt, " so will
ich auch einem mein Glück versuchen." Und den folgenden Tag, als es
anfing dunkel zu werden, ging er zu dem Turme und rief:
"Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter."
Alsbald fielen die Haare herab und der Königssohn stieg hinauf. Anfangs
erschrak Rapunzel gewaltig als ein Mann zu ihr hereinkam, wie ihre Augen noch
nie einen erblickt hatten, doch der Königssohn fing an ganz freundlich mit
ihr zu reden und erzählte ihr dass von ihrem Gesang sein Herz so sehr sei
bewegt worden, dass es ihm keine Ruhe gelassen, und er sie selbst habe sehen
müssen. Da verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte ob sie ihn
zum Manne nehmen wollte, und sie sah, dass er jung und schön war, so
dachte sie: "Der wird mich lieber haben als die alte Frau Gothel",
und sagte ja, und legte ihre Hand in seine Hand. Sie sprach: "Ich will
gerne mit dir gehen, aber ich weiß nicht wie ich herab kommen kann. Wenn
du kommst, so bring jedes Mal einen Strang Seide mit, daraus will ich eine
Leiter flechten und wenn die fertig ist, so steige ich herunter und du nimmst
mich auf dein Pferd." Sie verabredeten, dass er bis dahin alle Abend zu
ihr kommen sollte, denn bei Tag kam die Alte. Die Zauberin merkte auch nichts
davon, bis einmal Rapunzel anfing und zu ihr sagte. "Sagen sie mir doch
Frau Gothel, wie kommt es nur, sie werden mir viel schwerer heraufzuziehen, als
der junge Königssohn, der ist in einem Augenblick bei mir."
"Ach" du gottloses Kind", rief die Zauberin, "was muss ich
von dir hören, ich dachte ich hätte dich von aller Welt geschieden,
und du hast mich doch betrogen!" In ihrem Zorne packte sie die
schönen Haare der Rapunzel, schlug sie ein paar Mal um ihre linke Hand,
griff eine Schere mit der rechten, und ritsch, ratsch, waren sie abgeschnitten,
und die schönen Flechten lagen auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig,
dass sie die arme Rapunzel in eine Wüstenei brachte, wo sie in
großem Jammer und Elend leben musste.
Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel verstoßen hatten, machte Abends die
Zauberin die abgeschnittenen Flechten oben am Fensterhaken fest, und als der
Königssohn kam und rief:
"Rapunzel, Rapunzel,
lass dein Haar herunter."
so ließ sie die Haare hinab. Der Königssohn stieg hinauf, aber er
fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern die Zauberin, die ihn mit
bösen und giftigen Blicken ansah. "Aha", rief sie höhnisch,
"du willst die Frau Liebste holen, aber der schöne Vogel sitzt nicht
mehr im Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und wird dir auch
noch die Augen auskratzen. Für dich ist Rapunzel verloren, du wirst sie
nie wieder erblicken." Der Königssohn geriet außer sich vor
Schmerz, und in der Verzweiflung sprang er den Turm herab: das Leben brachte er
davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen ihm die Augen. Da irrte er
blind im Walde umher, aß nichts als Wurzeln und Beeren, und tat nichts
als jammern und weinen über den Verlust seine liebsten Frau. So wanderte
er einige Jahre im Elend umher und geriet endlich in die Wüstenei, wo
Rapunzel mit den Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und einem
Mädchen, kümmerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, und sie
däuchte ihn so bekannt: da ging er darauf zu, und wie er heran kam,
erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um den Hals und weinte. Zwei von ihren
Tränen aber benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er
konnte damit sehen wie sonst. Er führte sie in sein Reich, wo er mit
Freude empfangen ward, und sie lebten noch lange glücklich und
vergnügt.
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