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Die
Kornähren
Märchen von Ludwig Bechstein, Seite 1 ( von 1 )
Es war einmal eine Zeit, aber das ist schon undenklich lange her, da trugen
alle Kornhalme, und auch die von anderem Getreide volle goldgelbe Ähren
herab bis auf den Boden; da gab es keine Armut und keine Hungersnot, niemals,
und das war die goldene Zeit. Da konnten sich alle Menschen mit Wonne
sättigen, und auch die Vögel, die gerne Körner fressen,
Hühner und Tauben und andere Vögel, fanden Futter vollauf.
Aber da waren unter den Menschen welche, die waren undankbar und gottvergessen,
und achteten die schöne werte Gottesgabe, das liebe Getreide für gar
nichts. Da gab es Frauen, die nahmen, wenn sich ihre kleinen Kinder
verunreinigt hatten, die vollen Ährenbüschel und reinigten damit ihre
Kinder, und warfen die Ähren auf den Mist; und die Mägde scheuerten
mit den vollen Ähren, und die Buben und kleinen Mädchen jagten sich
durch das liebe Korn, spielten Verstecken darin, wälzten sich darauf herum
und zertraten es. Das jammerte den lieben Gott, der das Getreide den Menschen
zur Nahrung gegeben hatte und dem Vieh zum Futter, und nicht zum Verurzen *)
und dachte bei sich, wir wollen es anders machen, und die goldene Zeit soll ein
Ende haben.
Und da schuf der liebe Gott, dass hinfort jeder Halm nur eine einzige Ähre
trug, einmal für die Menschen, damit sie das liebe Getreide besser schonen
lernen, und einmal für die unschuldigen Tiere, damit sie doch noch ihr
Futter haben sollten, wenn auch die Menschen nicht einmal die eine Ähre
wert waren.
Von da an ist Hunger und Teuerung und Armut in die Welt gekommen. Nur zuweilen
und selten lässt sich der liebe Gott da oder dort einen Wunderhalm mit
vielen Ähren emporschießen, und zeigt so dem Menschen, wie es einst
beschaffen war um das Getreide, und was Er kann. Und es geht eine alte
Prophezeiung unter dem Volk, dass einmal nach langen Jahren, wenn das Engelwort
sich erfüllt haben wird: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden
und unter allen Menschen Wohlwollen, Segnung und Liebe, dass dann der Boden
auch wieder von Gott erweckt werden solle, solche Halme zu tragen, die bis zur
Wurzel voll Ähren sind. Unser Keiner aber wird das erleben.
*) mutwillig Verderben
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