|
Die Jagd des
Lebens
Märchen von Ludwig Bechstein, Seite 1 ( von 1 )
Es war einmal ein Jäger, der ging zu Wald in eine öde Wildnis, dort
zu jagen. Da kam er einem Tiere auf die Fährte, als er diese aber endlich
entdeckte, wünschte er es nimmermehr gesehen zu haben, denn es war ein
mächtiges Einhorn, welches sich gegen ihn stellte. Eilig wandte er sich
zur Flucht, und stets verfolgte ihn das Einhorn, bis er an eine steile Felswand
kam, deren schroffen Abhang tief unten die Wellen eines dunklen Sees
bespülten. In dem See schwamm ein ungeheurer Drache, der den Rachen
gähnend aufriss, und plötzlich glitt der Jäger aus, und
wäre gerade hinab in den See und in des Drachen Schlund gestürzt,
wenn er nicht an einem einer Felsritze entsprossten Strauch sich festgehalten
hätte. Da war nun des Jägers Lage eine totängstliche. Droben
stand, wie ein Wächter das schreckliche Einhorn, drunten lauerte auf
seinen Hinabsturz der gräuliche Seedrache. In dieser Not war seine Angst
und Qual aber noch vermehrt, denn mit einem Male erblickte er zwei Mäuse,
eine weiße und eine schwarze Maus; die begannen an der Wurzel der Staude
zu nagen, und der Jäger vermochte nicht, sie hinabzuscheuchen, weil er
sich mit beiden Händen anhalten musste. So musste er jeden Augenblick
gewärtig sein, dass die Wurzeln des Strauchs diesen nicht mehr halten
würden. Über ihm stand ein Baum, von dem träufelte
süßer Honig nieder, und gar zu gern hätte der Jäger diesen
Baum erlangt, denn damit meinte er aller Qual entledigt zu sein, und über
dem Baum vergaß er alle ihm drohenden Gefahr. Wir wissen nicht, ob es ihm
gelungen, aus seiner dreifachen Qual erlöst zu werden, oder ob die
Mäuse des Strauches Wurzeln ganz abgenagt.
Der alte Dichter dieser Märe gibt ihr ein allegorische Deutung, indem er
sagt: Der Jäger, das ist der Mensch, und das Einhorn, das ist der Tod, der
ihm begegnet; ehe er es vermeint und ihn immerdar verfolgt. Die steile Felswand
ist die Erde und der Strauch ist das Leben, daran der Mensch nur mit schwachen
Banden hängt. Die weiße und die schwarze Maus, welche das Leben an
der Wurzel benagen, ist Tag und Nacht, oder die rastlose Zeit, die an unserm
Leben zehrt. Der dunkle See ist die Hölle, und sein Drache der Teufel, die
darauf lauern, dass der Mensch falle und in ihren Rachen stürze. Der
Honigbaum aber ist die Liebe, die das Leben versüßende, welcher der
Mensch zustrebt und sie zu erlangen hofft zwischen Not und Tod, zwischen Qual
und Pein, keiner Gefahr achtend, und deren Erringung er seine irdische
Seligkeit findet. Doch soll der Mensch sich täglich hüten, da die
Mäuse ihn an der Lebenswurzel zehren, dass er nicht in den See des
Verderbens falle.
|
|